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Karriereverweigerung

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Die Verweigerung des sozialen Aufstiegs oder Karriereverweigerung (refus de parvenir) ist ein Konzept der freiheitlichen Linken, das Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich formuliert wurde und im 21. Jahrhundert eine gewisse Aktualisierung erfährt.

Zu verstehen ist darunter zunächst die Ablehnung von Privilegien, von Auszeichnungen und von individuellem Aufstieg (Karriere) sowohl im politischen und gewerkschaftlichen als auch im akademischen Rahmen; entwickelt und propagiert wurde der Begriff insbesondere von Mitgliedern der syndikalistischen Bewegung.

Unter dem Schlagwort "Karriereverweigerung" des Haus Bartleby e.V. erfolgt seit 2014 im deutschsprachigen Raum eine Rezeption und Aktualisierung ohne ausdrückliche Bezugnahme auf den historischen Vorläufer.

Ursprung und Entwicklung[Bearbeiten]

Das französische Verb parvenir bezeichnet sowohl "Erfolg haben" als auch "(sozial) aufsteigen" und spiegelt sich im deutschen Lehnwort "Parvenü" (Emporkömmling).[1] Geprägt wurde der Begriff der Karriereverweigerung (refus de parvenir) von dem freiheitlich-anarchistischen Schullehrer und Gewerkschafter Albert Thierry (1881-1915) in einer Artikelreihe mit dem Titel "Réflexions sur l'éducation" ("Über die Bildung"), die 1912 f. in der syndikalistischen Zeitung La Vie ouvrière erschien. "Den [sozialen] Aufstieg zu verweigern", so Thierry, "heißt weder die Tat zu verweigern noch das Leben zu verweigern, sondern das Ich-zentrierte und eigennützige Tun und Leben zu verweigern. Sprich, dem Proletariat treu zu bleiben und den gierigen und grausamen Egoismus an seiner Wurzel zu vernichten".[2]

Dieser Gedanke Thierrys war in der anarcho-kommunistischen Bewegung nicht neu.[1] Er findet sich beispielsweise im Denken des freiheitlichen Geographen Élisée Reclus (1830-1905), der erklärte: "Solange unser Sieg nicht zugleich der Sieg aller ist, haben wir die glückliche Gelegenheit niemals zu reüssieren!"[3] Der proletarische Schriftsteller Marcel Martinet (1887-1944) präzisiert: "Die Karriereverweigerung des aufstiegsfähigen Proleten hat nur dann Sinn, wenn sie vom Aufstiegswillen des Proletariats begleitet wird."[4]

Eine eben solche Haltung schreibt Rudolf Rocker etwa dem langjährigen Vorsitzenden der FAUD, Fritz Kater zu – in der französischen Einleitung fasst man Rockers biografische Ausführungen zusammen als Hinweis auf Katers "Solidarität, persönliche Kultur, Selbstdisziplin, Kampfeswillen und 'Karriereverweigerung' [...] ein unverfälschtes Produkt der proletarischen Ethik seiner Zeit":[5]

Um ihnen die Wahl leichter zu machen, bot man den Vertretern der Lokalisten gute Stellungen in den Zentralverbänden an und so mancher von ihnen konnte der Versuchung nicht widerstehen. Auch Fritz Kater wurde mit einem solchen Angebot bedacht. [...] Er lehnte beides ab [...]. Andere waren nicht so bedenklich und gelangten in Amt und Würden, aber Kater war aus anderem Stoffe gemacht.[6]

Nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint in Frankreich gar ein Roman mit dem Titel Refus de parvenir, roman-témoignage (1956, "Karriereverweigerung. Bekenntnis in Romanform"). Herausgeber dieses Buches von Albert-Vincent Jacquet war Pierre Monatte, der 1909 die Zeitschrift La Vie ouvrière mitbegründet hatte; es enthält anstelle eines Vorworts einen Brief des renommierten Mediävisten Marc Bloch.[7]

Im Nachgang des Mai 1968 verlassen maoistisch inspirierte Studierende vielfach die Universität und wechseln in die Fabrik; man bezeichnet dieses Phänomen als Bewegung der "Etablierten" (établis). Der Soziologe Marnix Dressen schreibt, diese "Karriereverweigerung ergab sich aus einer Ablehnung des Privateigentums, war aber in erster Linie verbunden mit der Ablehnung der Privilegierung im Bildungswesen, der eigentlichen Erbsünde."[8] Der Wechsel vom Hörsaal in die Fabrik ist aber nur eine vieler Ausdrucksformen. Eine weitere Form zeigt sich auch (durchaus mit ausdrücklichem Bezug auf den refus de parvenir) im Bildungswesen, wenn Absolventen von Elitehochschulen bewusst eine Laufbahn im Schuldienst einschlagen[9] – eine solche Haltung wird Simone Weil bereits für Anfang der 1930er-Jahre zugeschrieben[10] und Dominique Manotti für die Zeit nach 1968.[11]

Der französische Historiker Christophe Prochasson schreibt in seinem Buch La gauche est-elle morale ? (2010, "Die Linke und die Moral"): "Die Karriereverweigerung ist konstitutiv für die aktivistische Moral der Linken",[12] auch Erik Neveu bezeichnet das Konzept als einen sittlich-moralischen Wert "des ‚Anarcho-Kommunismus'".[1] In den Augen der Schweizer Historikerin Marianne Enckell ist die Karriereverweigerung in erster Linie die Weigerung, allein für sich zu leben und zu handeln, und stattdessen "sein Wissen und seine Fähigkeiten in den Dienst der Solidarität [und des Kollektiven] zu stellen".[13][14]

Als konsequenter Vertreter dieser Traditionslinie mag auch der sozial engagierte Versicherungsangestellte Henri Simon gelten. Nach der Spaltung der Gruppe Socialisme ou Barbarie, gründet er das noch heute erscheinende Bulletin Échanges: "Er lehnt den Begriff ‚Aktivist' ab und lebt die Tradition der Karriereverweigerung," heißt es in einem Kurzfilm.[15] Erik Neveu beschreibt die Karriereverweigerung als dauerhaften Habitus der ehemaligen Aktivisten von 1968 und präzisiert:

Die Akzeptanz bestimmter Beschränkungen entspricht der Priorisierung von Maßstäben wie gesellschaftlicher Nützlichkeit und Lebensqualität gegenüber solchen wie Einkommen und Macht in der Bestimmung dessen, was ein interessanter Arbeitsplatz ist. Ein Bezug besteht auch zu einer anti-institutionellen Grundorientierung und einem Misstrauen gegenüber den meisten Formen organisierter Autorität. Dieser refus de parvenir ist nicht Ausdruck von Masochismus oder bürgerlichem Märtyrertum, sondern eines Unbehagens oder einer Unzufriedenheit angesichts des Missbrauchspotenzials, das jegliche symbolische oder hierarchische Macht in sich birgt.[16]

Im 21. Jahrhundert[Bearbeiten]

Der Verein Haus Bartleby trat 2014 mit einer "Anleitung zur Karriereverweigerung" an die Öffentlichkeit und veröffentlichte später ein Manifest "zum lebenslangen Generalstreik" – wahrgenommen wird die Gruppe als ein "umfängliches Kunstprojekt", das "an einem neuen Verständnis von Arbeit und einer gerechteren Vereinbarung in der Wirtschaft forschen" wolle.[17][18][19][20]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. 1,0 1,1 1,2 Erik Neveu, Olivier Fillieule: Activists Forever?: Long-Term Impacts of Political Activism. Cambridge University Press, 2019, ISBN 978-1-108-42872-9, S. 89 (google.de [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  2. Jean-Louis Rouch: Prolétaire en veston: une approche de Maurice Dommanget, instituteur, syndicaliste, historien social et libre penseur, 1888-1976. "Les Monédières", 1984, S. 42 (google.de [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  3. Maud Reveilhac: Refuser de parvenir. À propos de : Collectif du CIRA, Refuser de parvenir. Idées et pratiques (Nada Éditions, 2016). In: Sociologie. 12. November 2017, ISSN 2108-8845 (openedition.org [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  4. Vorwort zu Albert Thierrys Réflexions sur l'éducation, in: Marcel Martinet, Culture Prolétarienne, Marseille 2004. Zit. nach: Grégory Chambat, Une école du "refus de parvenir" ?, in: CIRA Lausanne, Refuser de parvenir. Idées et pratiques, Paris: Nada, 2016, S. 57.
  5. Fritz Kater et les origines du syndicalisme révolutionnaire en Allemagne [Rudolf Rocker] - [A Contretemps, Bulletin bibliographique]. Abgerufen am 2. Oktober 2019.
  6. Rudolf Rocker - Biographie von Fritz Kater - www.anarchismus.at. Abgerufen am 2. Oktober 2019.
  7. Pierre (1881-1960) Auteur du texte Monatte, Albert-Vincent Auteur du texte Jacquet: Refus de parvenir , roman-témoignage. Avec une lettre-préface de Marc Bloch. [En guise de préface, par Pierre Monatte.] 1956 (bnf.fr [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  8. Marnix Dressen: De l'amphi à l'établi: les étudiants maoïstes à l'usine, 1967-1989. Belin, 2000, ISBN 978-2-7011-2772-9, S. 104 (google.be [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  9. Pierre Bataille: Se dire normalien.ne. Les « identités au travail » des ancien.ne.s élèves des ENS. In: SociologieS. 15. November 2018, ISSN 1992-2655 (openedition.org [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  10. Simone Weil et la question de l'éducation ouvrière - N'Autre École. Abgerufen am 2. Oktober 2019.
  11. Victor Hugo, Julius Cäsar und die blauen Augen der Schwalben ⋆ Direkte Aktion. In: Direkte Aktion. 18. November 2013, abgerufen am 2. Oktober 2019 (deutsch).
  12. Christophe Prochasson: La gauche est-elle morale ?: Vite, la revolution citoyenne. Flammarion, 2010, ISBN 978-2-08-125480-0 (google.de [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  13. Montpellier : après "Indignez-vous", “Le refus de parvenir“ ! Abgerufen am 2. Oktober 2019 (français).
  14. Marianne ENCKELL: Le Refus de parvenir. Indigène, 2014, ISBN 979-1-09035455-5 (google.de [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  15. Affinités électives: Les copains d'Henri - Die Freunde von Henri. Eine 68er-Geschichte von unten. 11. Juli 2018, abgerufen am 2. Oktober 2019.
  16. Erik Neveu, Olivier Fillieule: Activists Forever?: Long-Term Impacts of Political Activism. Cambridge University Press, 2019, ISBN 978-1-108-42872-9, S. 104 (google.de [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  17. Arbeit - Über eine Anleitung zur Karriereverweigerung. Abgerufen am 2. Oktober 2019.
  18. Sag alles ab! In: EDITION NAUTILUS. Abgerufen am 2. Oktober 2019 (deutsch).
  19. Susanne Messmer: Berliner Schlendrian: Ich würde lieber nicht. In: Die Tageszeitung: taz. 12. Januar 2017, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 2. Oktober 2019]).
  20. Haus Bartleby e.V. Abgerufen am 2. Oktober 2019 (english).


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