Wie es mit dem kleinen Jungen, der die Wahrheit sagte, weiterging
Wie es mit dem kleinen Jungen, der die Wahrheit sagte, weiterging ist ein Märchen von Stefan Heym aus dem Jahr 1984. Veröffentlicht wurde es 2005 im btb Verlag, München, in der Taschenbuchausgabe Märchen für Kluge Kinder.
Neben Romanen, Essays, journalistischen Darstellungsformen und Erzählungen schrieb Stefan Heym auch Märchen. Diese entstanden „immer in schwierigen Zeiten“. Diese und andere Geschichten schrieb er für ältere Kindern, Jugendliche und junge Erwachsene [1] Stefan Heym nutzte das Genre des Märchens, um darin Trost zu finden und um „von der Wirklichkeit zu sprechen, die auf andere Art längst nicht so elegant zu beschreiben wäre“.[2]
Auch in den Märchen zeigen sich seine einzigartigen schriftstellerischen Fähigkeiten. Die Märchen leben von hintergründigem Humor und Ironie. Die Moral der Geschichten ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Diese, so ist es Heyms volle Absicht, soll den Leser unbewusst erreichen, ohne dass es belehrend und damit langweilig wirkt: „Ich möchte den Menschen etwas sagen, was mir am Herzen liegt, ich möchte sie erreichen. Ich glaube, das ist legitim“.[3]
Inhalt[Bearbeiten]
Ein eitler, dummer und verschwenderischer Kaiser, der nicht fähig ist, sein eigenes Urteil zu fällen, lässt sich von der Meinung der Öffentlichkeit treiben. Verblendet wie das Staatsoberhaupt und aus Angst, der Dummheit bezichtigt zu werden, lässt sich das gesamte Kaiserreich von gerissenen Betrügern auf den Leim führen. Nur ein einziges Kind erkennt den Schein, in dem es sich auf seine Sinne verlässt und das ausspricht, was es sieht. Die Betrüger aber sind schon längst auf und davon. Lug und Trug, Sein und Schein – darüber erzählt das bekannte Märchen von Hans Christian Andersen Des Kaisers neue Kleider.
Handlung[Bearbeiten]
Da, wo das Märchen Des Kaisers neue Kleider von Andersen aufhört, findet Stefan Heym die Basis für seine Fortsetzung des Märchens Wie es mit dem kleinen Jungen, der die Wahrheit sagte, weiterging. Den Autor interessiert, was aus diesem Kind wurde: „Was wurde aus dem kleinen Jungen, […] dessen Wahrheitsliebe die Leute alle so beschämt hatte, dass sie auch plötzlich glaubten, die Wahrheit sagen zu müssen?“.[4]
Der Protagonist erhält eine Identität und die Neutralität des Kindes wird aufgehoben. Aus dem Kind wird der Junge Jens Ulrich und muss nun für seine Äußerung mit Konsequenzen durch seinen Vater rechnen, weil es unbedachter Weise „gegen die herrschende Meinung“ gesprochen hat.[4] Sein Vater fürchtet ebenfalls eine Bestrafung von dem Kaiser. Doch entgegen dieser Erwartungen werden beide nicht bestraft, was augenblicklich positiv erscheint. Der Junge wird vom Volk als Held gefeiert, der „der Freiheit eine Gasse geöffnet hat“.[5] Das Kind tritt in die Gunst des Kaisers, der ihn zum „Ersten Kaiserlichen Wahrheitssager“.[6] ernennt. Doch die Dienste für den allwissenden Herrscher, der jeden Tag eine Wahrheit aufgesagt bekommen möchte, erweist sich für Jens Ulrich als belastende Aufgabe.[6] Er bereut bald so unüberlegt gehandelt zu haben und sehnt sich danach, wieder ein ganz normales Kind zu sein. Dann lernt er das hübsche Milchmädchen kennen, das täglich die Milch für die kaiserliche Familie bringt. Sie wird zu Jens’ Verbündetem und steht ihm täglich beratend zur Seite.
Während seiner Zeit auf dem kaiserlichen Hof durchlebt der Protagonist eine charakterliche Wendung. Der Held gerät in eine innerliche Diskrepanz zwischen sozialer Erwünschtheit und der kindlichen unbefangenen Subjektivität. Letzteres sowie seine kindliche Naivität weichen bereits bei der ersten Begegnung mit dem Staatsoberhaupt der herrschenden Sittlichkeit.[7] Er präsentiert täglich dem Kaiser Wahrheiten, denen nichts entgegen gestellt werden kann, u. a. dass die Milch von der Kuh käme oder die Sonne morgens auf- und abends untergehen würde.[8]
Den Höhepunkt erreicht diese Doppelmoral im Märchen, als der Junge gebeten wird, zu äußern, was er von der Frau Kaiserin hält.[7] Als ihm, entgegen aller Erziehungsratschläge seines Vaters, keine passende Antwort, die der herrschenden Meinung entspricht, einfallen will, agiert er wie zu Beginn der Geschichte und sagt tatsächlich das, was er sieht, denkt und fühlt. Er befreit sich von dieser Scheinheiligkeit[9], in dem er seine persönliche Meinung laut und klar kundtut. Paradoxerweise ist die Reaktion des Kaisers auf diese ehrliche, dennoch wenig nette Äußerung über seine Frau: „Die Frau Kaiserin ist eine hässliche und unangenehme alte Schachtel“[9], nicht negativ und zieht im Angesicht der Wahrheit über die Frau Kaiserin in Betracht, sich eine junge schöne Frau zu suchen. Seine Wahl fällt auf das Milchmädchen, dessen hübsche Erscheinung auch ihm nicht verborgen geblieben ist.
Jens ist intelligent genug zu erkennen, dass er einfach nur Glück hatte und er dieses nicht noch mal provozieren möchte. Nachdem auch das Milchmädchen nicht Kaiserin werden will, laufen beide davon, wo sie lachen können und spielen und wurden so wohl glücklich.[9]
Personen[Bearbeiten]
In diesem Märchen folgt die Rollenverteilung der weiblichen und männlichen Protagonisten dem typischen Heym-Schema.[10]
Die Hauptfigur, der Held, ist männlich und gerät eher unfreiwillig in diese Rolle.
Die Figur des Jens Ulrich ist rund dargestellt. Im Gegensatz zu den anderen Figuren werden ihm die meisten Denkmuster und Handlungsweisen zugeschrieben. Er ist derjenige, der sich im Konflikt mit sich selbst befindet und im Laufe der Handlung eine charakterliche Wandlung durchmacht. Er ist intelligent und wagt letztendlich doch das Risiko einzugehen, um den inneren Konflikt zu beenden.[10] Eine weitere Figur, die für die Handlung wesentlich ist, ist die Figur des Kaisers. Seine charakterlichen Eigenschaften erscheinen im Vergleich zu Jens eher implizit. Seine Persönlichkeit lässt sich vordergründig aus seinem Handeln und seinen Äußerungen erschließen. Wobei hier viel mehr Interpretationsfreiraum dem Leser gegeben wird. Typisch Stefan Heym, zeigt sich die Figur des Kaisers „in der Treue zu seiner Partnerin (Frau Kaiserin) wankelmütig“ und bedient sich ängstlicher Mitläufer, wie dem ersten Minister und dem Volk, um seine egoistischen Ziele durchzusetzen.[10]
Die weiblichen Figuren des Märchens sind gegenüber den männlichen Protagonisten flach und dienen lediglich dazu, die Handlung voranzutreiben. Sie wirken weniger intellektuell, dafür aber stehen sie emotional und unterstützend dem männlichen Protagonisten zur Seite, wie das hübsche Milchmädchen oder die ominöse Tante, die stets dem Kaiser treu ergeben ist.[11]
Form[Bearbeiten]
Wie es mit dem kleinen Jungen, der die Wahrheit sagte, weiterging ist ein Kunstmärchen. Erst nach einer satirischen Zusammenfassung des Prätextes Des Kaisers neue Kleider von H. C. Andersen nimmt die Handlung des Heymschen Prosatextes über den wahrheitsliebenden Jungen seinen Lauf. Die Handlung folgt der traditionellen linearen Erzählstruktur. Die unterschiedlichen inhaltlichen Elemente greifen logisch in- und die verschiedenen Elemente folgen chronologisch aufeinander. Die Ausgangshandlung, der Ausruf des Jungen setzt in dem Märchen von Stefan Heym erst die Handlung in Bewegung. Die Geschichte ist fiktional. Darauf deuten nicht nur das Genre des Märchens und die Intertextualität hin, sondern auch die Tatsache, dass sein Inhalt nicht an der historischen Wirklichkeit überprüft werden kann.[12] Textinterne Fiktionalitätssignale, wie „[…] und so kam es, dass die Leute in diesem Kaiserreich stets richtig informiert waren, während das in anderen Kaiserreichen durchaus nicht immer der Fall ist; […]“[8] können nur in fiktionalen literarischen Werken funktionieren, da eine faktuale Darstellung dessen einen Beweis erfordert - nach dem Motto „Woher weißt du das?“[12]
Die Geschichte beinhaltet mehrere Erzählperspektiven. Im Rückblick, der Zusammenfassung des Märchens von H. C. Andersen, wird es von der auktorialen Erzählsituation beherrscht. Die handelnden Personen werden ausschließlich in der dritten Person angesprochen. Der Autor nimmt eine allwissende Perspektive ein und so bekommen die Leser Informationen, über die die handelnden Personen gar nicht verfügen: „Die beiden Betrüger jedoch, die das ganze Unheil angerichtet hatten, waren um die Zeit schon über die Grenzen und in einem westlichen Lande, wo sie mit dem Geld, das sie nun besaßen, und mit den Kenntnissen, die sie bewiesen hatten, eine Schule für modernes Kunstgewerbe eröffneten“.[4]
In der Fortführung der Geschichte wechselt die Perspektive des Autors. Der Autor tritt in den Hintergrund und die Handlung wird durch die Protagonisten des Textes wiedergegeben. Dadurch, dass der Erzähler sich zurück nimmt, gestattet er dem Leser sich selbst ein Urteil zu bilden: „Der kleine Junge wusste nicht, was er antworten sollte, denn er hatte sich wirklich nichts dabei gedacht, als er sagte 'Aber er hat ja gar nichts an!', und er erwartete eine Tracht Prügel von seinem Vater, das war das Mindeste, wenn nicht gar drei Tage ohne Pudding und ohne Rosinenspeise dazu.“[4]
Direkte Rede und gedankliche Reflexion machen es dem Autor möglich die Handlung aus dem persönlichen Blickwinkel der Hauptfigur darzustellen und damit eine personale Erzählsituation zu vermitteln.[13]
Besonders erscheint der kurze Wechsel des Autors in die Ich-Erzählsituation in der scheinbar banalen Figur der Tante. Er spricht immer von „seiner“ Tante. Dies wiederholt sich im Handlungsverlauf: in der Ausgangssituation[4], in der so genannten Spannungsphase[5] und in der Auflösung, am Ende.[9]
Das Denken und Fühlen der Figuren im Märchen von Stefan Heym steht nur dem Protagonisten, Jens Ulrich, zu. Diese unausgesprochenen Gedankengänge s. g. innerlichen Monologe sind für die Moral der Geschichte bedeutungsvoll. Dazu gehören die geistigen Reflexionen der Lehren des Vaters[7] Verborgen bleiben die gedanklichen Äußerungen des Kaisers.
Weniger Interessant ist die Zeitstruktur. Über welchen Zeitraum sich die Handlung erstreckt wird nicht präzisiert. Zeitlich benannt werden Tagesabschnitte wie der Morgen und der Nachmittag. Jedoch erkennt man nicht, der wievielte Morgen und der wievielte Nachmittag es ist, an dem der Junge für den Kaiser tätig. Zeiträume wurden gerafft: „An diesem Nachmittag jedoch, als die kaiserliche Familie wieder beim Tee saß und der ganze Hof […]“.[8]
Der genaue Ort des Geschehens bleibt unberührt. Nur eine Allegorie im Prätext könnte den Leser unter bestimmten Voraussetzungen dazu verleiten zu denken, dass das Märchen im Osten spielt.[4] Wo genau, bleibt unbenannt. Ebenso bleibt es dem Leser verborgen, wohin genau Jens und das Milchmädchen gehen, nach dem sie den kaiserlichen Hof verlassen. Die genaue Verortung der Sommerfrische (Wikipedia), wo sie die Tante des Erzählers gesehen haben soll, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.[9]
Ein spezielles Merkmal der Heymschen Märchens ist die Allegorie. Der Autor war bestrebt seine Geschichten allgemein allegorisch aufzubauen, ohne direkten Bezug auf die DDR und das System zu nehmen [14] Das zentrale Element, aus dem die Allegorie besteht, ist die Ambiguität.[15] Wird die Doppeldeutigkeit als Wesen der Allegorie in einem Märchen betrachtet, so dient es dem Zweck, dass sich die Bedeutung des Märchens unerwünschten Lesern verschließt. Die allegorische Textstruktur besteht demnach aus zwei Verwendungskontexten: Text (explizit) und Prätext (implizit)[15] Der Text, die initiale Bedeutung der Prosa, ist hier ohne großes Nachdenken verständlich. Der so genannte Prätext, bzw. die allegorische Bedeutung erschließt sich nur aus Wissen und vertrautem Kontext. Voraussetzung für die Erschließung der impliziten Bedeutung ist aber auch, das sowohl der Leser als auch der Autor über das Wissen verfügen, das einem gemeinsamen kulturellen Kontext entspringt[15]
Stefan Heym schöpft in dem Märchen Wie es mit dem kleinen Jungen, der die Wahrheit sagte, weiterging allegorisch alles aus, beispielsweise Wortspiele wie der Name des Jungen Jens Ul(b)rich(t), der eine Doppeldeutung Ulbricht zulässt.
Interpretation[Bearbeiten]
Die Wahrheit bildet den Kernpunkt des Märchens, die als Schlüssel zur Freiheit gesehen wird. Dem stehen Betrug, Schein, Dummheit und Eitelkeit aber auch Unterwerfung dem sozialen Ideal entgegen, die es zu überwinden gilt. Dabei wird die Wahrheit nur akzeptiert, wenn dieser nichts Gegenteiliges entgegengebracht wird und diese, in dem Fall dem Kaiser und seinem Ansehen, nicht schadet. Sollte das jedoch der Fall sein, werden harte Konsequenzen angedroht: „[…] eine Wahrheit aber ist eine Wahrheit, wenn die Zeit dafür gekommen ist, ansonsten ist sie ein Fehler und kann dich den Kopf kosten....“.[9]
Eine gedachte Parallele zwischen dem Märchen und der DDR ergibt folgende Interpretation: Stefan Heym gibt seinem Protagonisten eine männliche Identität und bringt sich persönlich in das Märchen ein, in dem er sich hinter seiner Tante versteckt, die eine Anhängerin des Kaisers zu sein scheint. Jens Ulrich ist ein einzelner Mensch, der für einen bestimmten Menschen steht, eventuell für die Autoren der DDR, die ebenso wahrheitsliebend waren, eventuell Vertreter der sich entwickelnden „Literatur der Dissidenz“.[16] Der Kaiser dagegen ist unbestimmt stehend für alles bzw. jeden: für den Staat, für das Staatsoberhaupt oder auch für ein staatliches Organ, wie die Verlage oder die sogenannten Kulturfunktionäre.[17] Die Tante, die dem Kaiser die Treue hält, verehrt das Staatsoberhaupt und hält ihm bis zum Schluss die Treue. Eine Analogie bilden die Hoffnungen des Autors auf den „utopischen Sozialismus“.[16]
In der DDR wurden den Schriftstellern Kulturfunktionäre unterstützend zur Seite gestellt. Diese Organe des Staates waren durch sowjetische Vorbilder geprägt und propagierten das Konzept des sozialistischen Realismus.[17] Diese Stilrichtung war auch die einzig erlaubte für die zeitgenössische Literatur.[17] Der sozialistische Staat sah in der Literatur und in den Schriftstellern ein Erziehungsinstrument. Die Literatur diente nicht nur der bloßen Unterhaltung, sondern hatte eine politische Verantwortung.[18] Zu ihren Aufgaben zählte die Verbreitung ideologischer Ideale, die Förderung des sozialistischen Wiederaufbau des Landes durch Erschaffen von Helden mit Vorbildcharakter und mit dem sich der Leser identifizieren konnte.[19] Den Schriftstellern wurde auferlegt, was sie und wie sie zu schreiben hätten. Entgegen der Wirklichkeit waren sie durch Zensur und Selbstzensur und den Druck von Institutionen, die die literarische Arbeit lenkten, gezwungen, eine ideale Welt zu beschreiben. Themen, wie der 17. Juni 1953 oder die Enthüllungen zum XX Parteitag der KPDSU passten nicht in das kulturelle und literarische Weltbild der DDR. Die Parteizentrale wollte mittels Literatur analoge Antworten auf politische Fragen schaffen. „[…] Schreibe Vorbilder, wurde dem Autor gesagt, schreibe einen musterhaften Arbeiter, und alle Arbeiter werden musterhaft arbeiten.“[20]
Das war für den Autor Stefan Heym alles „Unsinn“[21], obwohl auch er die Literatur dafür berufen sah, zu erziehen. Diese sollte nicht, wie die Regierung der DDR es verlangte, von außen auf den Leser wirken, „sondern in ihm Veränderungen hervorrufen“.[22] Im Gegensatz zu seinen Romanen äußerte Heym öffentlich immer seinen Glauben an die Wandlungsfähigkeit des Menschen. Diese Wandlungsfähigkeit beschreibt er im Märchen sehr anschaulich, als das Kind sich vom Helden der Wahrheit zum Mitläufer des Kaisers, dann aber durch seinen Mut wieder zum Wahrheitskämpfer entwickelt. Wie im Märchen, stellen Subjektivismus, Normenfeindlichkeit und Kritik an der Vorbildkultur[23] eine Bedrohung für die herrschende Staatsform, im Falle der DDR dem real existierenden Sozialismus, dar.
Das System der DDR im Hinblick auf ihren Umgang mit Mensch und Natur wird immer stärker von Literaturschaffenden revidiert und entwickelt sich zu einer „Literatur der radikalen Zivilisationskritik“.[24] Symbolisch für diese Entwicklung kann das Kind gesehen werden, das als für etwas Neues steht. Diese neue Ehrlichkeit kann als Kampf um kulturelle Freiheit betrachtet werden, so steht die Wahrheitsliebe des Protagonisten sinnbildlich dafür, dass sie der Schlüssel für die Meinungs- und Publikationsfreiheit ist.[5]
Die kritische und ehrliche Haltung der Autoren gegenüber dem Staat stößt auf enorme Härte der Regierung, deren Höhepunkt nicht nur die Ausbürgerung W. Biermanns (Wikipedia), sondern neben Publikationsverboten in de DDR, auch der Ausschluss führender Schriftsteller der DDR aus dem Autorenverband, u. a. auch Stefan Heym, bildet. Das Regime versucht Schadensbegrenzung im innerpolitischen Bereich zu betreiben. Diese kann man den Kaiser unterstellen, als er den Jungen zu seinem Staatsdiener macht, um ihn unter seine Kontrolle zu bringen. Damit hat er zunächst auch Erfolg, denn das Kind bemüht sich um die Gunst des Kaisers, aus Furcht vor Konsequenzen, in dem er sich zurück nimmt.
Auch Heym zieht sich zurück, als er nicht mehr journalistisch tätig sein und auch öffentlich nicht mehr tätig sein durfte. „[…] der Not gehorchend und keineswegs dem Wunsche, auszuweichen, und wurde ich wieder hauptamtlicher Romancier.“[20]
Er bedient sich der Dichtung, um die Wirklichkeit abzulichten, aus der Rezipienten ihre Erkenntnisse gewinnen. Der Märchenheld, Jens Ulrich, flüchtet sich in wahre „Aussagen“, die richtig sind und denen nichts entgegen gestellt werden kann.[25] Diese werden auch vom Kaiser, der nicht mehr als die „Liebe zur Wahrheit“ [5] schätzt und seinem mitläufigen Hofstaat akzeptiert, da man diesen Aussagen keine Möglichkeit von Irrtümern bzw. Täuschungen einräumen kann und sie das Regierungsoberhaupt nicht in die Kritik geraten lassen. Interessant in dem Zusammenhang scheint die Tatsache, dass Erich Honecker eine Liberalisierung der Literatur zuließ, die aber nur staatstreuen Sozialisten, die nicht den verhängten Geboten widersprechen, zugute kam. Demokraten waren von dieser Liberalisierung nicht betroffen.[23]
Stefan Heym war stets ein Kämpfer gegen Kontrollen, Verbote sowie Auflagen. Er ließ sich nicht den Mund verbieten und sich nicht verbiegen. Der Querdenker kämpfte für seine Ideale. Heym war ein Befürworter des Sozialismus, kritisierte aber stark den Stalinismus, den er für die kritische Situation der modernen sozialistischen Literatur verantwortlich machte.[26]
Den sozialistischen Realismus kritisierte er in seiner Rede im tschechischen T’alin dahingehend, dass dieser nur ein „Sammelsurium wild durcheinander gewürfelter Aussagen von Lenin und Engels“[26] sei. Soviel Ehrlichkeit und Offenheit war von einem Schriftsteller eines sozialistischen Staates nicht üblich. Deshalb fand dieser öffentliche Diskurs ein großes mediales Interesse. Heyms Aktivitäten wurden daraufhin gesperrt, was er sich nicht gefallen ließ. Auf einem Kolloquium hielt er uneingeladen die Rede mit dem Titel Stalin verlässt den Raum, basierend auf einer Anekdote, die ihm Ilja Ehrenburg erzählt hatte.[26] Kernpunkt seiner Rede war das Thema der „doppelbödigen Moral“, einer Diskrepanz zwischen persönlicher Meinung und öffentlicher Äußerung[26] Das ist der essentielle Inhalt des Märchens. Auch der Protagonist befindet sich in diesem Zwiespalt, dem er erst entrinnen kann, als auf die Frage des Kaisers nach seiner Frau dem Jungen keine andere Möglichkeit bleibt, als die persönliche, subjektive Meinungsäußerung, entgegen jeder Etikette[7] Da diese so klar und deutlich erfolgt, dass es auch wirklich jeder gehört hat[8], kann sie als eine Befreiung gesehen werden, die endlich dem Verlangen nach der Ehrlichkeit entsprungen ist. Das Verlangen nach einer authentischen, ehrlichen Diskussion in sozialistischen Ländern erscheint Stefan Heym als das Mittel, um das sozialistische Ideal zu erreichen. Den Schlüssel dazu hat er in der „Wahrhaftigkeit“ gesehen[26] Auch wenn Wahrheit oft weh tut, so ist sie immer ein Weg zur Freiheit. Nur durch sie können Fehler, Missstände aufgedeckt und behoben werden und nur dann kann das sozialistische Ideal, nach Heym, erreicht werden.[26] In seiner Rede Die Langeweile von Minsk, inspiriert von Berthold Brecht, betont er wieder, wie wichtig Wahrheit ist und die wichtigste Aufgabe, die dem Schriftsteller zukommt ist, diese zu verbreiten.[26] Im Märchen ebnet sich der Held mit seiner Aussage den Weg in die Freiheit. Er befreit sich aus den Zwängen des Kaisers und läuft mit dem Milchmädchen einfach davon. Wo sie dann sind, sind sie glücklich, weil sie das machen können, was ihnen gefällt, ohne Zwang und Angst vor Repressalien, wie der Autor von seiner Tante zu wissen scheint,[9]
Literaturverzeichnis[Bearbeiten]
Primärliteratur[Bearbeiten]
- Stefan Heym: Wie es mit dem kleinen Jungen weiterging, der die Wahrheit sagte (1984); In Märchen für Kluge Kinder. 1. Auflage 2005: München, btb Verlag
- Stefan Heym: Dichtung und Wirklichkeit. Gespräch mit Günter Gaus in Gravenbruch, Frankfurt am Main. 1. Auflage 1990: München, Bertelsmann.
Sekundärliteratur[Bearbeiten]
- Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. 1. Auflage Berlin 2000, Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH.
- Wolfgang Homering (Hrsg.): Zeugen des Jahrhunderts. Stefan Heym im Gespräch mit Dirk Sager. Berlin 1999, Ullstein.
- Peter Hutchinson: Stefan Heym Dissident auf Lebenszeit; Aus dem Engl. v. Verena Jung. Würzburg 1999, Königshausen & Neumann
Weiterführende Literatur[Bearbeiten]
- Mario Klarer: Einführung in die neue Literaturwissenschaft. Darmstadt 1999, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
- Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart 2008, Verlag J. B. Metzler.
- Jochen Vog: Einladung zur Literaturwissenschaft. Auflage: 1. Paderborn 2000. Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG.
- Paul-Wolfgang Wührl: Das deutsche Kunstmärchen. Baltmannsweiler 2003: Schneider Verlag Hohengehren
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Peter Hutchinson: Stefan Heym Dissident.... S. 116.
- ↑ Heym: Jung ..., S. 2.
- ↑ Homering (Hrsg.): Zeugen des Jahrhunderts. ..., S. 54.
- ↑ 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 4,5 Heym: Junge ..., S. 82.
- ↑ 5,0 5,1 5,2 5,3 Heym: Junge..., S. 83.
- ↑ 6,0 6,1 Heym: Junge..., S. 85.
- ↑ 7,0 7,1 7,2 7,3 Heym: Junge..., S. 84.
- ↑ 8,0 8,1 8,2 8,3 Heym: Junge..., S. 86.
- ↑ 9,0 9,1 9,2 9,3 9,4 9,5 9,6 Heym: Junge..., S. 87.
- ↑ 10,0 10,1 10,2 Peter Hutchinson: Stefan Heym Dissident..., S. 7ff.
- ↑ Stefan Heym: Junge, ... S. 82–84.
- ↑ 12,0 12,1 Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. Auflage: 1. Paderborn. Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG, 2000, S. 103.
- ↑ Mario Klarer: Einführung in die neue Literaturwissenschaft. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999, S. 53.
- ↑ Hutchinson: Stefan Heym Dissident..., S. 116.
- ↑ 15,0 15,1 15,2 Wührl: Das deutsche Kunstmärchen, S. 101.
- ↑ 16,0 16,1 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, ... S. 239.
- ↑ 17,0 17,1 17,2 Hutchinson: Stefan Heym Dissident..., S. 70.
- ↑ Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. ...S. 44.
- ↑ Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. ...S. 45.
- ↑ 20,0 20,1 Heym: Dichtung und Wirklichkeit. Gespräch mit Günter Gaus in Gravenbruch, ... S. 93.
- ↑ Heym: Dichtung und Wirklichkeit. Gespräch mit Günter Gaus in Gravenbruch, ... S 92.
- ↑ Hutchinson: Stefan Heym Dissident..., S. 184.
- ↑ 23,0 23,1 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. ... S. 246f.
- ↑ Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. ... S.. 239.
- ↑ Heym: Dichtung und Wirklichkeit. Gespräch mit Günter Gaus in Gravenbruch, ... S. 94.
- ↑ 26,0 26,1 26,2 26,3 26,4 26,5 26,6 Hutchinson: Stefan Heym Dissident ... S. 106 ff.
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