Flüchtlingsarbeit
Flüchtlingsarbeit richtet den Blick sowohl auf die Flüchtlinge und das Thema (Zwangs-) Migration als auch auf diejenigen, die sich für Flüchtlinge einsetzen bzw. in der einen oder anderen Weise mit ihnen befasst sind. Der Begriff steht somit sowohl zur Migrationsthematik und zur Flüchtlingskrise als auch zur Willkommenskultur in enger Verbindung. Da Flüchtlingsarbeit sich nicht nur auf ein Flüchtlingsphänomen beschränkt, sondern auch die historische Dimension im Blick hat, geht es letztlich um die Frage, wie aus Erfahrungen Konzepte für ein angemessenes Miteinander entwickelt werden.
Überblick[Bearbeiten]
Flüchtlingsarbeit als Arbeit mit Flüchtlingen ist zum einen definiert durch den Begriff desFlüchtlings, der entweder eng im juristischen Sinne oder – wie im vorliegenden Fall und in der Literatur - im sozialwissenschaftlichen und historischen Sinne weiter gefasst werden kann. Außerdem gilt es in diesem Zusammenhang „Arbeit“ mit Flüchtlingen näher zu charakterisieren. Flüchtlingsarbeit meint – ähnlich wie Flüchtlingshilfe - alle Formen von Hilfe, Unterstützung und Zusammenarbeit mit Flüchtlingen, die insbesondere deren Ankunft betreffen, den Asylprozess und die Integration in Deutschland sowie alle anderen Herausforderungen, denen sie als Flüchtlinge begegnen. Diese Arbeit geschieht vor allem auf ehrenamtlicher bzw. freiwilliger Basis. Dazu gehören als Zielgruppe keine Flüchtlinge, die schon längere Zeit in Deutschland leben und etabliert sind, wie deutsche Vertriebene und (Spät-)Aussiedler oder jene, auf die sich Kultur- und Diasporavereine beziehen. „Als ‚freiwillig engagiert‘ wird gezählt, wer in der Befragung angibt, freiwillige oder ehrenamtliche Arbeiten oder Aufgaben außerhalb von Beruf und Familie auszuüben.“ [1] Als ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit gelten somit all jene Tätigkeiten, mit denen sich Personen unentgeltlich in Zusammenarbeit mit Flüchtlingen für jene engagieren. [2] In den Studien zur ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit fällt auf, dass Ehrenamtliche trotz zahlreicher engagierter Männer vorwiegend weiblich, gut gebildet und wirtschaftlich in einer relativ sicheren Position sind, sie wohnen zumeist in Großstädten und sind nur zum Teil – etwa zur Hälfte religiös – zumeist christlich; außerdem sind zahlreiche Personen mit Migrationshintergrund darunter; Jüngere und Studierende sind überrepräsentiert. Es geht ihnen vor allem darum, als Paten oder Mentoren, Unterkunft und Mobilität zu ermöglichen, bei Behördengängen zu helfen Sprachkurse, Kinderbetreuung und Stadtführungen anzubieten oder Kleidung bereit zu stellen. Auch die Koordination der verschiedenen Hilfsangebote nimmt einen großen Stellenwert ein. [3] Die Arbeit ist oft selbstorganisiert, z.B. in Vereinen und oft durch bereits bestehende interkulturelle Kontakte oder durch Medienberichte motiviert; der Vernetzungsgrad ist relativ hoch. [4]
Flüchtlingsarbeit als politisches Signal[Bearbeiten]
Die sozialen Dienstleistungen der oft spontanen Helfergruppen haben dadurch eine eminent politische Dimension, dass sie ein politisches Zeichen im Blick auf das gesellschaftliche Klima gegenüber Flüchtlingen setzen. Das galt nicht nur für die Ersthilfephase, sondern gilt auch für die folgende Integrationsphase, die angesichts der inhomgenen Flüchtlingsgruppen zumeist eine Fortsetzung der Vermittlung basaler Sprach- und Kulturkenntnisse und -fertigkeiten erfordert. [5] Darüber hinaus hat auch die Zusammenarbeit mit Behörden und kommunalen Akteuren eine politische Dimension [6] – zumal angesichts einer Beteiligungsquote von 10,6% (2016) der über 14-Jährigen in Deutschland (inklusive der Spendenden). [7] Das deutlichste Signal ist dabei die Bildung einer parteiübergreifenden Bürgerbewegung zur Entlastung der öffentlichen Stellen, [8] die sich angesichts persönlicher Kontakte von politischen Kategorisierungen distanziert und auf eine neue Zivilgesellschaft und Willkommenskultur zielt. [9] Dazu gehört auch die zentrale Motivation vieler Helfender, etwas gesellschaftlich zu bewegen. [10]
Flüchtlingsarbeit als Erinnerungsarbeit[Bearbeiten]
Im Bewusstsein vieler Menschen endet europäische Migrationsgeschichte mit den Völkerwanderungen von Antike und Mittelalter. Die Beschäftigung mit diesem Thema beginnt erst wieder mit der „Flüchtlings-Krise“ der letzten Jahre. Die intensive Begegnung mit Migrationsgeschichten im Rahmen von Flüchtlingsarbeit rückt den europäischen Aspekt in den Fokus, indem die von den Flüchtlingen erfahrenen unterschiedlichen Haltungen zu ihnen in den einzelnen Flucht-Stationen Fragen nach den Hintergründen und Narrativen eröffnen. [11] Durch den biografischen Zugang im Rahmen der Flüchtlingsarbeit können die unterschiedlichen Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, Integration – individuell, gruppenbezogen, ethnisch, religiös, als eigene oder Familienerfahrung – im Sinne eines ‘travelling memory’ [12] oder ‘transnational memory’ [13] kontextualisiert werden. Als eine besondere Form von Erinnerungslernen wird durch den gegenseitigen - vermutlich eher indirekt reflektierenden – Erfahrungsaustausch deutlich: Flüchtlingsarbeit beginnt nicht erst mit dem Syrienkonflikt, sondern betrifft auch die Migrations- und Asyldiskurse seit den 1970er Jahren [14] und die Situation fremdsprachiger „Displaced Persons“ nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland, [15] reicht aber auch bis in das 19. Jahrhundert zurück, wo die Schutzsuche bosnischer Flüchtlinge im Habsburger Reich ehrenamtliche Hilfe mobilisierte. [16] Da zudem sowohl die Flüchtlinge mit zumeist traumatischen Erinnerungen kamen und kommen und auch die Helfenden ihre Erinnerungen mitbringen, werden Erinnerung und Migration zunehmend gemeinsam untersucht, weil diese Kombination der Inhomogenität von Flüchtlingsarbeit zwischen Majoritäts- und Minoritätsgesellschaften und Narrationen gerecht wird. [17] Die besondere Schutzwürdigkeit des Asyls als subjektiv vom Flüchtling einklagbares Recht im Grundgesetz (Artikel 16 II 2) wird erst vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus erklärlich – entsprechend die politische Praxis in den ersten Jahren der Bundesrepublik. Auch die Situation 1951 zur Zeit der Genfer Flüchtlingskonvention erhellt das Verständnis der Vorgeschichte der deutschen Haltung im 21. Jahrhundert und die Prägung der oft restriktiv handelnden Institutionen und Personen der Flüchtlingsarbeit; von der anfänglichen Orientierung an der Genfer Konvention (s. Bild) profitierten angesichts des "Kalten Krieges" vor allem Flüchtlinge aus den Ostblockstaaten. Die im politischen Handeln dieser Zeit spürbare Balance von sozialem Engagement und sozialer Kontrolle sowie die Gleichsetzung von Freiheit mit Verantwortung wird so nachvollziehbar und hinterfragbar bzw. transformierbar. [18]
Flüchtlingsarbeit als (inter-) kultureller Dialog[Bearbeiten]
National geprägte Sozialisation als Enkulturation und Akkulturation von Muttersprachlern aber auch Migranten kann einbinden, aber auch festbinden, vor allem, wenn die Familie Wert auf die eigene Kultur legt und andere ablehnt [19] Flüchtlingsarbeit balanciert somit zwischen Interkulturalität und Assimilation, wenn sie auf Integration zielt und wenn dabei Politik, Wohlfahrtsinstitutionen und Schule kulturelle Identitäten auf beiden Seiten eher verfestigen, statt gemeinsame und übergreifende Handlungsperspektiven zu entwickeln. [20] Hintergrund ist das weitgehend ungeklärte Verhältnis hinsichtlich der multikulturellen Wirklichkeit der Gesellschaft. Weder die Gesellschaft noch die Schule konnten sich – nicht zuletzt durch die NS-Vergangenheit - bislang zu einem positiven Verhältnis zur ethnischen Heterogenität der Bevölkerung durchringen. [21] Eine solche Transformation von einer inter- zu einer transkulturellen Sicht umfasst als Willkommenskultur die individuelle Ebene, die Ebene der Organisationen und Institutionen sowie die gesamtgesellschaftliche Ebene [22] Da in den meisten pädagogischen Veranstaltungen - vor allem in Sprach- und Kulturvermittlungen - für Migranten die Gefahr einer Etablierten-Außenseiter-Figuration groß ist, sollten Lehrende - z.B. durch Supervision - ein Gespür für kulturelle Unterschiede entwickeln, um ohne stereotypisierende Zuschreibungen auf ihre Teilnehmenden eingehen zu können – etwa im Rahmen von Einzelgesprächen. Nicht zuletzt sind sowohl didaktisches und methodisches Geschick notwendig, um etwa sprachliche und nichtsprachliche Vermittlungsformen zu koppeln. [23]
Flüchtlingsarbeit als Wertefrage[Bearbeiten]
Dass viele der Ehrenamtlichen als Motivation für ihr Engagement angeben, die Gesellschaft verändern und sich gegen Rassismus einsetzen zu wollen, [24] deckt sich mit den Zielen der mit Flüchtlingsarbeit befassten Institutionen. Ihnen kommt es anhand von best practice Beispielen darauf an, in einer durch rechtspopulistische Angstpropaganda geprägten Situation aufzuzeigen, dass Integration und Inklusion gelingen kann und gelingen wird, wenn Politik und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. [25] Hierzu gehört auch der vorgeschriebene Standard für Gemeinschaftsunterkünfte, der die Wertschätzung seiner Bewohner fordert und auf Partizipation, psychosoziale Begleitung, Sprachkurse oder Hausaufgabenhilfe hin organisiert werden soll, statt lediglich Wohnraum und Betreuung zu bieten. [26] Auch die Frage, welche unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Religionen unter einem Dach sinnvoll untergebracht werden, gehört in diesen Zusammenhang, da hier der interkulturelle auch ein interreligiöser Dialog ist, der vor allem im pädagogischen Kontext von Bedeutung ist. [27] Auch die zunehmende Bereitschaft von Flüchtlingen, sich taufen zu lassen[28] sowie die Herausforderung von Kirchenasyl zeigen diese Brisanz.
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Julia Simonson, Claudia Vogel, Clemens Tesch-Römer: Freiwilliges Engagement in Deutschland, Wiesbaden 2014.
- ↑ John Wilson: 'Volunteering', Annual Review of Sociology, 26 (2000), 215-16.
- ↑ Hamann et al., 2016
- ↑ Serhat Karakayali, J. Olaf Kleist: EFA-Studie 1 und 2: Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland, 2. Forschungsbericht: Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2015, Berlin: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin 2016.34 (im Folgenden: Efa Studien); Das Engagement für und mit Flüchtlinge(n), Herausgeberin: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (bagfa) e.V. 2015 (im Folgenden Bagfa 2015)
- ↑ Rudolf Speth und Elke Becker: Zivilgesellschaftliche Akteure und die Betreuung geflüchteter Menschen in deutschen Kommunen, Opusculum Nr. 92, April 2016 (im Folgenden: Speth/Becker)
- ↑ Bagfa 2015.
- ↑ Petra Angela Ahrens: Skepsis oder Zuversicht? Erwartungen der Bevölkerung zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland, Hannover 201.
- ↑ Florian Fritz: 'Von ganzem Herzen – ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen in Deutschland', in: Wartesaal Deutschland: Ein Handbuch für die soziale Arbeit mit Flüchtlingen, ed. by Florian Fritz, Stuttgart 2004), 225-32
- ↑ Ulrike Hamann, Serhat Karakayalı, Mira Wallis, Leif Jannis Höfler: Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen (BIM), Gütersloh 2016. (im Folgenden Hamann et al., 2016; Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.): So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch, Bielefeld 2017 (im Folgenden: Schiffauer et al., 2017.
- ↑ EFA Studien 2015 und 2016.
- ↑ Imke Sturm-Martin: Europes absent history, Eurozine
- ↑ Astrid Erll: “Travelling Memory”, Parallax, 17 (4), 2011, 4-18.
- ↑ Chiara de Cesari and Ann Rigney (eds.): Transnational memory, Berlin, 2014.
- ↑ Klaus J. Bade, Michael Bommes: Migration und politische Kultur im „Nicht-Einwanderungsland“, in: Klaus J. Bade/ Rainer Münz (Hg.): Migrationsreport 2000. Fakten—Analysen—Perspektiven, Frankfurt am Main/ New York 2000, 109–140.
- ↑ Geert Franzenburg, TRIMDA Forum 1/2007 und 2/2008
- ↑ Jared Manasek: Empire Displaced: Ottoman-Habsburg Forced Migration and the Near Eastern Crisis, 1875-1878, Columbia universtiy 2013.
- ↑ Irial Glynn and J. Olaf Kleist: The Memory and Migration Nexus: An Overview January 2012
- ↑ Stephan Dünnwald: Der pädagogische Griff nach dem Fremden: Zur Haltung lokaler Initiativen gegenüber Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 2006.
- ↑ Achim Schrader, Bruno W. Nikles, Hartmut M. Griese: Die Zweite Generation. Sozialisation und Akkulturation ausländischer Kinder in der Bundesrepublik, Kronberg 1976
- ↑ Speth, Becker 2016
- ↑ Dünnwald 2006
- ↑ F. Heckmann: Willkommenskultur - Was ist das, und wie kann sie entstehen und entwickelt werden? (efms), Bamberg 2012
- ↑ Norbert Elias, James Scotson: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a.M. 1993 (1. Aufl. 1965); Monika Bethscheider/Klaus Troltsch: Aspekte der „Etablierten-Außenseiter-Figuration“ in der beruflichen Weiterbildung REPORT (30) 3/2007, 51-60
- ↑ EFA 1+2
- ↑ Schiffauer 2017
- ↑ Tobias Pieper, Die Gegenwart der Lager – Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik, 2008.
- ↑ Stephan Leimgruber, Interreligiöses Lernen, München 22007
- ↑ epd-West Nr. 45 vom 04.03.2016
Literatur[Bearbeiten]
- Jutta Aumüller, Priska Daphi und Celine Biesenkamp: Die Aufnahme von Flüchtlingen in den Bundesländern und Kommunen Behördliche Praxis und zivilgesellschaftliches Engagement 2015
- E. Boesen und F. Lentz: Migration und Erinnerung: Konzepte und Methoden der Forschung, Münster, 2010.
- Robert Bosch Stiftung (Hg.): Chancen erkennen – Perspektiven schaffen – Integration ermöglichen, Stuttgart 2016.
- Peter Gatrell: The making of the modern refugee, Oxford 2013.
- V. B. Georgi und R. Ohliger: “Geschichte und Diversitat: Crossover statt nationaler Narrative?”, in Dies. (Hg.)., Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg,. 7–25.
- I.Glynn und J. Olaf Kleist: History, Memory and Migration: perceptions of the past and the politics of incorporation, Basingstoke, 68–96.
- J. Olaf Kleist, “Grenzen der Erinnerung: Methoden des Vergangenheitsbezugs und ihre
Implikationen fur Migrationpolitik”, in Boesen E. and Lentz F., ed., Migration und Erinnerung: Konzepte und Methoden der Forschung, Münster, 2010, 223–255.
- Peter Kühne und Harald Rüßler: Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland (Frankfurt
am Main/New York 2000.
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