Neoklassik (Musik)
Der Begriff Neoklassik – oder New Classics – wurde um 2010 von der Musikindustrie und einigen Musikjournalisten geprägt. Die vermutlich erste Erwähnung stammt von Christoph Dallach, der 2013 in Spiegel Online im Zusammenhang mit einer CD von Ólafur Arnalds schrieb:
„Seit Jahren quälen sich große Plattenfirmen mit allerlei PR-Bohei, um ein junges Publikum für klassische Musik zu begeistern. Aber die DJs, die in Clubs Klassik auflegten oder Mozart & Co. remixten, wurden eher belächelt. Trotzdem hat sich eine Menge bewegt. Jenseits aller Trends und Kampagnen wurden einige junge Künstler mit einer Musik erfolgreich, die Spezialisten Neo-Klassik nennen. Schöngeister wie Dustin O’Halloran, Nils Frahm, Max Richter, Ludovico Einaudi, Hauschka und Ólafur Arnalds.“[1]
Ludovico Einaudi, der erfolgreichste Komponist der Neoklassik-Szene, hatte 2015 bereits „mehr als 1,5 Millionen Alben“ verkauft.[2] Darüber hinaus hat eine Playlist mit Stars wie Einaudi und Niels Frahm bei dem Streaming-Anbieter Spotify aktuell fast 3,7 Millionen Abonnenten (November 2018).[3] Die Tageszeitung Die Welt bezeichnete die Stilrichtung folgerichtig als „Megatrend“.[4]
Charakteristisch ist das Verschmelzen mehrerer moderner Genres aus den Bereichen Pop und Jazz mit Elementen der traditionellen klassischen Musik. Die Musik ist in der Regel – wie bei klassischer Musik – vollständig in Noten fixiert; improvisatorische Elemente finden sich kaum. Sie kann somit ohne Weiteres von anderen Interpreten – oder auch Laien – nachgespielt werden, was bei Pop oder Jazz nur in begrenztem Maße möglich ist. Es bestehen Berührungspunkte zur Populären Klassik, zur Filmmusik, zur Minimal Music und zu Easy Listening.
Die Stilrichtung ist nicht mit dem Neoklassizismus der 1920er Jahre verwandt. Daneben wird die Bezeichnung „Neoklassik“ seit den 1980er Jahren für ein Genre des Dark Wave verwendet, aber anders definiert.[5]
Vorläufer[Bearbeiten]
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden Bemühungen, die relativ engen Grenzen der akademischen klassischen Musik aufzubrechen, insbesondere auch als „Gegenbewegung“ zur damals entstehenden Zwölftonmusik, die nur noch einen kleinen Kreis von Hörern erreichte. Dabei wurden aus der populären Musik speziell die Harmonik wie auch das Instrumentarium des Jazz (Saxophon und Schlagzeug) einbezogen. Auf das für den Jazz typische Element der Improvisation wurde dagegen verzichtet. Besonders erfolgreich war auf diesem Gebiet George Gershwin, dessen Werke zu einer nachhaltigen Bereicherung der Klassik führten, später auch Leonard Bernstein, ebenso Kurt Weill und Hanns Eisler.
Ähnliche Versuche unternahm in den 1950er Jahren der Komponist Gunther Schuller, dessen Werk die europäische Neue Musik mit dem Modern Jazz verbindet. Schuller erfand dafür den Begriff Third Stream.
Zur selben Zeit legte der New Yorker Avantgarde-Komponist John Cage erstmals einige neoklassisch orientierte Kompositionen vor, in denen er sich auf sein Vorbild Erik Satie berief. Hervorzuheben sind In a Landscape für Klavier (1948) und das String Quartet in Four Parts (1949/50).
Ein vermutlich wichtiger Vorläufer der heutigen Neoklassik war der US-amerikanische Pianist und Komponist George Winston, der ab 1980 auf sich aufmerksam machte, und dessen Musik seinerzeit noch das Etikett New Age erhielt. Zu den Vorläufern der Neoklassik kann auch der Komponist Nikolai Kapustin gezählt werden, der in den 1970er Jahren begann, Musik zu komponieren, die wie Jazz klingt, aber vollständig notiert ist.
Als bedeutendste Wegbereiter gelten daneben die Komponisten der Minimal Music, insbesondere Steve Reich, Philip Glass und John Adams.[6]
Abgrenzung von anderen Genres[Bearbeiten]
Der Begriff Neoklassik entstand um das Jahr 2010 mit dem zunehmenden Erfolg des italienischen Komponisten und Pianisten Ludovico Einaudi, der mit eingängigen, kurzen Klavierstücken, die wie Popsongs klingen, ein großes Publikum erreichte. Seine Musik hielt auch auf Klassiksendern Einzug. Sie wird bis heute im BBC oder auf Klassik Radio gespielt, wobei diese Sender den Begriff „New Classics“ bevorzugen.
Im Gegensatz zu George Winston, der Autodidakt ist und keine Ausbildung genoss, besuchte Einaudi eine Musikhochschule und war Kompositionsschüler von Luciano Berio. Desgleichen hat Nikolai Kapustin ein Musikstudium am renommierten Moskauer Tschaikowski-Konservatorium absolviert. Die meisten heutigen Vertreter der Neoklassik haben gleichfalls einen akademischen musikalischen Background. Andere kommen aus dem Bereich des Indie-Pop.
Insgesamt haben die verschiedenen Vertreter der Neoklassik sehr individuelle Stilistiken entwickelt, was sich allein an den unterschiedlichen interpretatorischen Anforderungen ablesen lässt. So sind beispielsweise die Stücke von Einaudi von großer Schlichtheit und können schon von Klavierschülern bewältigt werden, wohingegen Kapustins Werke selbst für ausgewiesene Klaviervirtuosen eine Herausforderung darstellen, der nur wenige gewachsen sind. Das betrifft auch die Werke von Mia Brentano, die „überaus pianistisch gesetzt“ sind.[7]
Gemeinsam ist allen Werken der Neoklassik, dass es sich um tonale Musik handelt, die sich der klassischen Funktions-Harmonik bedient. Diese wird allenfalls mit Elementen der Jazz-Harmonik angereichert. Typisch ist ebenso, dass keine Verstärker, keine E-Gitarren und kein Schlagzeug verwendet werden, jedoch durchaus perkussive Elemente. Desgleichen wird weitgehend auf Elektronik verzichtet, die allenfalls dezent – quasi im Hintergrund – zum Einsatz kommt, etwa bei Nils Frahm. Insofern ähnelt Neoklassik mitunter „unplugged“ (unverstärkt) vorgetragener Popmusik, wie es insbesondere Eric Clapton auf seinem berühmten Album Unplugged (1992) praktizierte, das im Rahmen der MTV-Unplugged-Reihe entstand.
Haben zu Beginn die Komponisten ihre Werke fast ausnahmslos selbst gespielt, so gibt es neuerdings auch namhafte Klassik-Stars, die sich für diese Werke engagieren und sie in ihr Repertoire aufgenommen haben, darunter Daniel Hope (Violine) und Valentina Lisitsa (Klavier) sowie das Fauré Quartett, das Deutsche Kammerorchester Berlin und das MDR Sinfonieorchester.
Eine wichtige Zäsur – auch für die öffentlichen Anerkennung – stellte 2016 die Gründung des Labels „Neue Meister“ durch die Musikproduzenten Christian Kellersmann (edel:kultur) und Sven Schuhmann (heute Sony) dar. Zu den Schwerpunkten des Labels, das auch eigene Konzerte veranstaltet, gehört die Neoklassik.
Als Reaktion auf die große Nachfrage nach dieser Art Musik werden entsprechende CDs inzwischen in einer eigenen Abteilung angeboten, beispielsweise im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann.
Wichtige Vertreter der Gegenwart[Bearbeiten]
Die Tageszeitung Die Welt, die 2018 „Neoklassik als Megatrend“ bezeichnete, zählt Joep Beving und Hauschka zu ihren wichtigsten Vertretern.[8] Andreas Hartmann nennt in einem Artikel für Die Zeit Nils Frahm, Max Richter und Ólafur Arnalds als „die aktuell bekanntesten Vertreter der Neoklassikszene“.[9] Zu einem ähnlichen Resümee gelangten Philipp Holstein und Klas Libuda in der Rheinischen Post, die insbesondere das Schaffen von Max Richter, Hauschka, Jóhann Jóhannsson, Ólafur Arnalds und Nils Frahm hervorheben.[10]
Diskographie (Auswahl)[Bearbeiten]
Wenngleich eine Abgrenzung der Neoklassik von anderen Genres nach wie vor problematisch ist, haben sich bereits eine Reihe von CDs als typische Produkte der Neoklassik etabliert bzw. werden unter dieser Bezeichnung vermarktet.
- 1980: George Winston, Autumn
- 1982: George Winston, December
- 1984: Nikolai Kapustin, Eight Concert Etudes for Piano op. 40
- 1996: Ludovico Einaudi, Le Onde
- 2004: Ludovico Einaudi, Una Mattina
- 2004: Max Richter, The Blue Notebooks
- 2009: Ryūichi Sakamoto, Playing the Piano
- 2010: Chilly Gonzales, Solo Piano
- 2011: Ólafur Arnalds, Living Room Songs
- 2011: Yiruma, River Flows in You – The Very Best of Yiruma
- 2011: Nils Frahm, Felt[11]
- 2012: Recomposed by Max Richter: Vivaldi – The Four Seasons
- 2013: Sven Helbig, Pocket Symphonies – mit dem Fauré Quartett und dem MDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Kristjan Järvi
- 2013: Daniel Hope, Spheres
- 2014: Masashi Hamauzu, Opus 4 – mit Benyamin Nuss (Klavier), Lisa Schumann (Violine) und Kana Shirao (Violoncello)
- 2014: Hauschka, Abandoned City
- 2015: Chilly Gonzales, Chambers – mit dem Kaiser-Quartett
- 2015: Max Richter, Sleep
- 2015: Ludovico Einaudi, Elements
- 2016: Federico Albanese, The Blue Hour
- 2017: Björn Gottschall, Marche sur la lune
- 2018: Mia Brentano’s Hidden Sea. 20 Songs for 2 Pianos – mit Benyamin Nuss, Max Nyberg und Asja Valčić (Violoncello)
- 2018: Malakoff Kowalski, My First Piano
- 2018: Francesco Tristano, Piano Circle Songs
Rezeption[Bearbeiten]
Von der offiziellen Musikkritik wurden die Vertreter der Neoklassik zunächst kaum wahrgenommen oder absichtlich ignoriert. Inzwischen wird die Musik auch von etablierten Kritikern gewürdigt oder zumindest als Phänomen betrachtet, teilweise aber auch als „Kitsch“ bezeichnet.
Literatur[Bearbeiten]
- Nina Polaschegg, Populäre Klassik – Klassik populär. Hörerstrukturen und Verbreitungswechsel im Wandel, Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2005
- Volker Schmidt, Neoklassik ist doch Quatsch, in: Die Zeit, 11. Juni 2013 (online)
- Tobias Ruderer, Die neueste Form der Gebrauchsmusik nennt sich Neoklassik. Spur einer Regression, in: VAN. Ein Webmagazin für klassische Musik, 19. Juli 2015 (online)
- Auf der Suche nach einem neuen Ausdruck. Vom Mysterium des Tristan-Akkords und der bildhaften Dramatik der Tondichtungen; Neo-Klassik, 1. Teil, in: KlassikAkzente, 28. Juli 2016 (online)
- Direkt, radikal und ungeheuerlich: Das fundamentale Aufbrechen der Tonsprache Anfang des 20. Jahrhunderts; Neo-Klassik, 2. Teil, in: KlassikAkzente, 3. August 2016 (online)
- Die Wiederentdeckung des Wohlklangs; Neo-Klassik, 3. Teil, in: KlassikAkzente, 10. August 2016 (online)
- Der Siegeszug der Neoklassik. Eine neue Strömung erobert die Musik des 21. Jahrhunderts; Neo-Klassik, 4. Teil, in: KlassikAkzente, 17. August 2016 (online)
- Andreas Hartmann, Neoklassik. Hämmer ohne Grenzen, in: Die Zeit, 16. Oktober 2017 (online)
- Christian Kellersmann, Die „neue Klassik“, in: Das Konzert II. Beiträge zum Forschungsfeld der Concert Studies, hrsg. von Martin Tröndle, Bielefeld 2018, S. 379–387
- Neoklassik als Megatrend. Ein Leben ohne diese Musik ist möglich, aber sinnlos, in: Die Welt, 16. Juni 2018 (online)
- Marc Vetter, Neoklassik-Star. Max Richter: „Meine Stücke spiegeln die tristen Zustände unserer Zeit“, in: Rolling Stone, 6. August 2018 (online)
- Philipp Holstein und Klas Libuda, Neues Musikgenre. Klassik für das neue Jahrtausend, in: Rheinische Post, 16. September 2018 (online)
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Christoph Dallach, Im Takt der Vergangenheit. Vom Metal zur Klassik: der isländische Komponist Ólafur Arnalds, in: Spiegel Online, 29. April 2013 (online)
- ↑ Dagmar Leischow, Rebellion & Emotion. Ludovico Einaudi, in: Fono Forum, Heft 11/2015, S. 46f.
- ↑ Christoph Möller, Klavierplaylists zur Entspannung, auf: SWR 2
- ↑ Neoklassik als Megatrend. Ein Leben ohne diese Musik ist möglich, aber sinnlos, in: Die Welt, 16. Juni 2018 (online)
- ↑ Carstens, Olaf; Thalhofer, Frank: Duden. Das Fremdwörterbuch, Bibliographisches Institut, 11. Aufl., 2015, ISBN 3-411-04061-0, S. 726.
„Genre der Dark-Wave-Musik, das durch verschiedene Stilmittel und Komponisten der Romantik, der Alten Musik oder der Neuen Musik inspiriert ist.“ - ↑ Die Wiederentdeckung des Wohlklangs; Neo-Klassik, 3. Teil, in: KlassikAkzente, 10. August 2016 (online)
- ↑ Robert Nemecek, Mia Brentano's Hidden Sea, in: Pianonews, Heft 4/2018, S. 85.
- ↑ Neoklassik als Megatrend. Ein Leben ohne diese Musik ist möglich, aber sinnlos, in: Die Welt, 16. Juni 2018 (online)
- ↑ Andreas Hartmann, Neoklassik. Hämmer ohne Grenzen, in: Die Zeit, 16. Oktober 2017 (online)
- ↑ Philipp Holstein und Klas Libuda, Neues Musikgenre. Klassik für das neue Jahrtausend, in: Rheinische Post, 16. September 2018 (online)
- ↑ Nils Frahm verwendet auf diesem Album erstmals ein Klavier, bei dem ein Filz zwischen Hämmer und Saiten montiert ist, wodurch der Klang gedämpft wird und einen sehr intimen Charakter erhält. Diese Idee wurde in den folgenden Jahren vielfach aufgegriffen, darunter von Chilly Gonzales, Lambert bis hin zu Coldplay, die diesen Effekt in ihrem Song Atlas verwenden, entstanden 2013 als Filmmusik für Die Tribute von Panem – Catching Fire.
Weblinks[Bearbeiten]
- Christoph Möller: Neo Klassik – Ein Indie-Phänomen wird Mainstream, auf: Deutschlandfunk
- Neoklassik – Etikettenschwindel oder wichtiges neues Genre? Horst Weidenmüller im Gespräch mit Andreas Müller, auf: Deutschlandfunk Kultur
- Neoklassik. „Wenn ich das höre, werde ich gequält“. Moritz Eggert und Paul Frick im Gespräch mit Carsten Rochow
- Philipp Laier: Poptrend Neo-Klassik. Geräuschdreck zwischen den Noten (2012)
- Bettina Jech: Neo-Klassik. Die unaufgeregte Mischung, auf: Goethe-Institut
- Martin Böttcher: Neo-Klassik – Belanglosigkeit in Tüten? (2017)
- „Expo 1“ – die erste Werkschau der Neo-Klassik, in: Website der Universal Music Group (2017)
- Vincent Neumann: Komponist und Wahl-Berliner Federico Albanese. Irgendwo zwischen Eno und Einaudi, auf: Deutschlandfunk Kultur
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