Zeitenwende 2022
Der Begriff Zeitenwende im Zusammenhang mit der Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Russland bezeichnet die Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere die Abkehr vom Konzept einer „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland[1] (bezugnehmend auf die Ostpolitik Egon Bahrs und Willy Brandts auch die Theorie des Wandels durch Handel genannt).[2] Die vor der „Zeitenwende“ praktizierte deutsche Regierungspolitik wurde von Kritikern bereits in den Jahren vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine ab dem 24. Februar 2022 als „Appeasementpolitik“[3] bewertet.
Die „Zeitenwende-Rede“ und Reaktionen darauf[Bearbeiten]
Am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag:
„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“
Wichtigster Ausdruck der von Bundeskanzler Scholz proklamierten „Zeitenwende“ sind die Entscheidungen, militärisches Gerät an die Ukraine zu liefern und ein 100-Milliarden-Programm für die Aufrüstung der Bundeswehr aufzulegen.[5]
Unmittelbare Reaktionen auf die Rede des Bundeskanzlers[Bearbeiten]
Scholz erhielt sowohl in Deutschland[6] als auch bei den westlichen Verbündeten[7] große Zustimmung zu seinen Entscheidungen. Kritik gab es allerdings an der zögerlichen Umsetzung und den handwerklichen Schwächen des Konzepts:[8][9]
„Waffenlieferungen für die Ukraine, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr: Die von Kanzler Olaf Scholz verkündete „Zeitenwende“ nimmt Gestalt an. Allerdings viel langsamer, als manche erwartet hatten.“
„Seine (Scholz’) Rede von der Zeitenwende … ist vor allem Rhetorik gewesen, schnell formuliert und wenig durchdacht, mit einer Zahl versehen: 100 Milliarden, die langsam auch zerfällt, weil so unklar ist, wie und wofür das Geld genau zu verwenden ist.“
„It was Germany’s biggest foreign policy shift since the Cold War, what Mr. Scholz called a “Zeitenwende” — an epochal change — that won applause for his leadership at home and abroad. But six weeks later, the applause has largely ceased. […] Already doubts are building as to the German government’s commitment to its own radical plans.“
Am 3. Juni beschloss der Deutsche Bundestag mit Zwei-Drittel-Mehrheit eine Grundgesetzänderung, durch die ein Sondervermögen von rund 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr geschaffen werden soll. Insgesamt votierten 593 Abgeordnete für die Einrichtung des sogenannten Sondervermögens, 80 stimmten dagegen, sieben enthielten sich.[13][14]
Internationale Entwicklungen[Bearbeiten]
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat auch außerhalb Deutschlands zu abrupten Änderungen geführt, die unter den Begriff Zeitenwende subsumiert wurden. Diese Änderungen betreffen insbesondere jahrzehntelang vorherrschende Grundeinstellungen der Europäischen Union und von Ländern wie Finnland und Schweden, in denen die Diskussion über den Beitritt zur NATO an Fahrt gewinnt.[15]
Europäische Union[Bearbeiten]
Der Europäische Rat hat sich am 28. Februar 2022 auf ein Maßnahmenpaket zur Unterstützung der Ukraine durch Mittel der Europäischen Friedensfazilität (EFF) geeinigt. Mit diesen Unterstützungsmaßnahmen in Höhe von insgesamt 500 Millionen € soll die Lieferung von Ausrüstung und Material für die ukrainischen Streitkräfte – darunter erstmals auch letale Ausrüstung – finanziert werden.[16]
„(Inzwischen sind) … insgesamt 1,5 Milliarden Euro an Hilfsmaßnahmen von den EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität (EFF) bewilligt worden. Für die Europäische Union ist dies ein echter Paradigmenwechsel, denn das Geld wird nicht nur wie bisher zur Bereitstellung von Infrastruktur, für nichtletale Ausrüstung und Hilfsgüter eingesetzt, sondern ebenso für militärisches Gerät und Waffensysteme.“
Schweden, Finnland und die NATO[Bearbeiten]
Die beiden bisher neutralen Staaten Schweden und Finnland befinden sich wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Prozess der Entscheidung über einen Beitritt zum europäisch-nordamerikanischen Verteidigungsbündnis NATO:
„Immer klarer zeichnet sich ab, dass die bisher neutralen Staaten Finnland und Schweden auf einen raschen Nato-Beitritt zusteuern. Die ungezügelte Aggressivität des Kremls verändert die Kosten-Nutzen-Rechnung von Friedenspolitik und Bedürfnis nach militärischem Schutz. … «Russland ist nicht der Nachbar, für den wir es gehalten haben.» Es ist ein lapidarer Satz, den die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin Anfang April in einer Grundsatzrede vor ihrer Sozialdemokratischen Partei ins Mikrofon sprach. Doch er beendet eine ganze Epoche.“
Präsident Sauli Niinistö und Premierministerin Sanna Marin Finnlands sprachen sich am 12. Mai 2022 in einer gemeinsamen Erklärung für den „unverzüglichen Beitritt“ ihres Landes zur NATO aus.[18] [19] Am 18. Mai 2022 reichten Schweden und Finnland ihre Anträge auf Beitritt in die NATO formal ein.[20]
Österreich[Bearbeiten]
Im Gegensatz zu Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern wie Schweden und Finnland lässt die österreichische Regierung erkennen, dass sie nicht daran interessiert ist, sich der „Zeitenwende“ aktiv zu stellen:
„Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Europa gleich reihenweise Gewissheiten zu Fall gebracht. Deutschland erlebt seine Zeitenwende, rüstet auf und rückt zögerlich vom so tief verinnerlichten Pazifismus ab. ... Österreich dagegen scheint auf seine oft bewährte Taktik zu setzen, sich irgendwie durchzuwursteln, bis der Staub sich legt und man zum alten Trott zurückkehren kann.“
Auch im österreichischen Kurier vom 25. März wird die Frage gestellt: „Zeitenwende: Wo sind die Konzepte?“[22]
„In der Politik, bei den Parteien sind die Konsequenzen dieser Zeitenwende noch nicht angekommen. Außer der Ankündigung des Kanzlers, die Ausgaben für das Heer auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben zu wollen, ist völlig unklar, wie sich Österreich künftig verteidigen will. Wo sind die Konzepte, wo sind die Diskussionen darüber, wo ist der Wille zur Landesverteidigung? Der Wunsch, im gewaltlosen Paradies leben zu wollen, ist eine Sache. Die Realität, sich verteidigen zu können, ist eine andere.“
Schweiz[Bearbeiten]
Die Schweiz schließt sich nach einigem Zögern den EU-Sanktionen gegen Russland an. Dies wird in der Schweizer Öffentlichkeit durchaus als Zeitenwende – bezogen auf die Neutralitätspolitik des Landes – gewertet: „Mit Verweis auf die traditionelle Neutralität des Landes hatte die Schweizer Regierung bisher gezögert, scharfe Sanktionen gegen Russland zu ergreifen. Dieses Zögern war im In- und Ausland kritisiert worden.“[23]
„Der Bundesrat hatte zunächst darauf verzichtet, Sanktionen zu verhängen, und wollte lediglich sicherstellen, dass die von der EU verhängten nicht über die Schweiz umgangen würden. Verwiesen wurde dabei auf die Neutralität der Schweiz. … Mit jedem Tag, die der Krieg in der Ukraine weiter fortschritt, wurde die Kritik aus Bevölkerung, Medien und Politik lauter. Alle Parteien bis auf die rechtskonservative SVP sprachen sich schließlich für Sanktionen aus. Auch im Ausland stieß die Haltung der Schweiz zunehmend auf Unverständnis. Der Druck auf die Regierung erhöhte sich. Und er wurde letztlich so groß, dass der Bundesrat umschwenkte.“
Literatur[Bearbeiten]
- Timothy Snyder: Falsche Erinnerungen: Warum fällt es Deutschland so schwer, von einem faschistischen Russland zu sprechen? In: Der Spiegel. Ausgabe 22/2022. 28. Mai 2022, S. 52 ff.
- Florian Dorn, Niklas Potrafke, Marcel Schlepper: Zeitenwende in der Verteidigungspolitik? 100 Mrd. Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – (k)ein großer Wurf. In: ifo Schnelldienst von April 2022, Band 75, Nt. 4, S. 37–45.
- Dominika Kunertova: European Defense Policy: Zeitenwende, Ltd. In: CSS Analyses in Security Policy. Mai 2022, Nr. 304, S. 1–4.
- The reticent Mr Scholz; Germany and Ukraine. In: The Economist. 23. April 2022 (englisch).
- Embracing military power, Olaf Scholz tries to lead Germany into a new era. In: The Washington Post. 8. April 2022 (englisch).
- Doug Saunders: Germany changed decades of policy in minutes. In: Globe & Mail Toronto 28. Februar 2022 (englisch).
- Jeremy Cliffe: A new Iron Curtain has descended, and Europe is already irreversibly changed. In: New Statesman. 151, 2022 (englisch).
Weblinks[Bearbeiten]
- Thomas Müller: Eine Welt im Wandel: der Ukraine-Krieg als „Zeitenwende“. Universität Bielefeld / Sonderforschungsbereich. 14. März 2022
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Markus Wehner: Rechtfertigt Steinmeiers Russland-Politik die Ausladung?, FAZ vom 13. April 2022, abgerufen am 6. Mai 2022
- ↑ Ursula Schröder: Zeitenwende. Der Ukrainekrieg als Wendepunkt für die EU: Kein Zurück in eine alte Zeit. In: ipg-journal. Friedrich-Ebert-Stiftung, 15. März 2022, abgerufen am 5. Mai 2022.
- ↑ Hannes Adomeit: „Russland verstehen“: Kreml-Apologien als Basis für Appeasement-Politik. In: Arbeitspapier Sicherheitspolitik 17/2019. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, abgerufen am 5. Mai 2022.
- ↑ Wir erleben eine Zeitenwende. In: heute. 27. Februar 2022, abgerufen am 5. Mai 2022.
- ↑ Melissa Eddy and Jack Ewing: Germany’s Military Industry Gears Up to Restock Its Own Forces. The New York Times vom 6. Mai 2022, abgerufen am 23. Mai 2022
- ↑ Benedikt Becker: Historische Rede: Scholz läutet mit seiner Regierungserklärung eine Zeitenwende ein Stern, 27. Februar 2022, abgerufen am 5. Mai 2022.
- ↑ Michael Birnbaum und Rick Noack: Germany abandons muted approach to aid for Ukraine, sending weapons and greenlighting sanctions, Washington Post vom 26. Februar 2022, abgerufen am 5. Mai 2022
- ↑ Olaf Heuser: Das politische Rätsel der „Zeitenwende“.Podcast in Der Spiegel, 27. April 2022, abgerufen am 5. Mai 2022. "
- ↑ Kai Clement: Zaudernd zur Zeitenwende, Tagesschau vom 19. April 2022, abgerufen am 5. Mai 2022
- ↑ Deutschlands militärische Zeitenwende, Deutsche Welle vom 28. April 2022, abgerufen am 5. Mai 2022.
- ↑ „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz: Vor allem Rhetorik, taz.de, abgerufen am 6. Mai 2022.
- ↑ Ukraine War Pushes Germans to Change. They Are Wavering. In: The New York Times, 12. April 2022, abgerufen am 20. Mai 2022.
- ↑ Sondervermögen. Bundeswehr bekommt fast 100 Milliarden Euro für Modernisierung. Deutschlandfunk, 4. Juni 2022, abgerufen am 4. Juni 2022
- ↑ Bundestag beschließt Grundgesetzänderung für Sondervermögen, Spiegel vom 3. Juni 2022, abgerufen am 4. Juni 2022
- ↑ 15,0 15,1 Russland treibt Finnland und Schweden unter den Schutz der Nato – deren Bevölkerung hat die Zeitenwende rasch erkannt. NZZ vom 5. Mai 2022, abgerufen am 5. Mai 2022.
- ↑ Rat der EU, Pressemitteilung: EU verabschiedet neues Maßnahmenpaket als Reaktion auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine vom 28. Februar 2022, abgerufen am 5. Mai 2022
- ↑ Eine Zeitenwende braucht es auch in Brüssel, abgerufen am 5. Mai 2022
- ↑ Finnland: Präsident und Regierungschefin für NATO-Beitritt. In: tagesschau.de. 12. Mai 2022, abgerufen am 15. Mai 2022.
- ↑ Nato-Beitritt von Finnland und Schweden: Zwei Neue für die Nato. In: Zeit Online. 12. Mai 2022, abgerufen am 15. Mai 2022.
- ↑ Schweden und Finnland beantragen offiziell Nato-Beitritt, Der Spiegel, 18. Mai 2022, abgerufen am 18. Mai 2022
- ↑ Österreich setzt auf Durchwursteln statt eine Zeitenwende. NZZ vom 19. Mai 2022, abgerufen am 19. Mai 2022.
- ↑ 22,0 22,1 Josef Ertl: Zeitenwende: Wo sind die Konzepte?, Kurier vom 25. März 2022, abgerufen am 19. Mai 2022
- ↑ Zeitenwende in der Schweiz: Regierung schließt sich EU-Sanktionen gegen Russland an. dtv, 28. Februar 2022, abgerufen am 19. Mai 2022
- ↑ Katharina Brenner-Meyer: Die Schweiz erlebt eine Zeitenwende: „Neutralität ist nicht mit Feigheit gleichzusetzen“ In: Stern. 1. März 2022, abgerufen am 19. Mai 2022.
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