You can edit almost every page by Creating an account. Otherwise, see the FAQ.

Friedensfreiheit

Aus EverybodyWiki Bios & Wiki
Wechseln zu:Navigation, Suche



Frieden und Freiheit, zusammengesetzt zu "Friedensfreiheit", auch "Freiheitsfriede", bezeichnet den Zusammenhang zweier humanitärer Grundwerte. Das Begriffspaar findet sich vor allem in Philosophie, Politik und Gesellschaft. Je nach dem, ob mit der dualen Formel ein sozialpolitisches Ziel oder ein konkretes Ideal des Zusammenlebens angezeigt werden soll, handelt es sich dabei entweder um ein politisches Bekenntnis, etwa zu Demokratie und Menschenrechten, oder um eine realistische Utopie im Sinne einer sozialen Gesamtpraxis, die zwar noch nicht verwirklicht, prinzipiell aber erreichbar ist. So beschreibt unser Grundgesetz (GG) dieses Zusammen von Frieden und menschenrechtlicher Freiheit als ein Bedingungsverhältnis: "Das Deutsche Volk bekennt sich (...) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt."[1]

Dieser friedensfreiheitliche Zusammenhang wird in Artikel 7, Absatz 2, auch für das Menschenrecht auf Bildung formuliert: "Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeiten der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen." Und Artikel 11, Absatz 1, Satz 1 der ins Bundesgesetzblatt übernommenen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Fassung vom 22. Oktober 2010 lautet: "Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; (...)".

Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hat die weltgeschichtliche Bedeutung der europäischen Einigung so zusammengefasst: "Unser gemeinsames Haus Europa ist eine Verheißung auf die Zukunft. Eine Verheißung auf ein Leben in Freiheit und nachhaltigem Wohlstand, eine Verheißung auf ein friedliches Miteinander, eine Verheißung auf ein erfülltes Leben."[2]

Prägnant wie kaum ein anderer betont Konrad Adenauer, der erste Kanzler der BRD, diesen Zusammenhang: "Frieden ist Freiheit, Freiheit des einzelnen von Furcht und Zwang, Freiheit der Völker und der ganzen Menschheit von Ausbeutung, von Sklaverei, von Gewalt und Tod. Frieden und Freiheit, das sind die Grundlagen jeder menschenwürdigen Existenz."[3]

In Immanuel Kants "Reich der Zwecke-Formel" des kategorischen Imperativs wird dagegen ein sozialpolitisches Ideal des Zusammenlebens angestrebt: (Es) "muss ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen (Lebensregeln, U.M.) jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke (der moralisch perfekten, ebenso freien wie friedlichen, Gesellschaft, U.M.) wäre".[4] Als Strukturformel für die seiner Ansicht nach utopische Einheit von Frieden und Freiheit nennt Theodor W. Adorno "ein Miteinander des Verschiedenen"[5].

Auf der ersten Bedeutungsebene (politisches Bekenntnis) setzt sich immer mehr ein propagandistischer Gebrauch, bzw. Missbrauch, der Begriffsverbindung durch. Das "Duo" Frieden und Freiheit wird zum bloßen politischen Slogan, mit dem rechte wie linke Programme gerechtfertigt werden sollen: Es gibt eine "Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit", eine rechtsextreme politische Partei nennt sich "Allianz für Frieden und Freiheit", und während der Corona-Pandemie berufen sich Impfgegner, Esoteriker und Querdenker unter der Parole "Frieden und Freiheit" auf ihr demokratisches Widerstandsrecht.

Rhetorisch gesehen trägt die starke Alliteration von Frieden und Freiheit im Deutschen mit zur häufigen Verbindung der Grundbegriffe bei. Semantisch aufschlussreicher ist jedoch ihre Funktion als Hendiadyoin, die gemeinsame Bezeichnung für das Optimum eines guten menschlichen Zusammenlebens und / oder auch ausgeglichenen psychischen Erlebens.

Auf der anthropologischen Ebene wiederum spielt das Begriffspaar eine bedeutende Rolle für die Erläuterung eines psychisch stabilen Charakters. Dies gilt insbesondere im Kontext von Neurobiologie und buddhistischer Meditation, eine der höchsten Ausprägungen kontemplativer Erfahrung: "Menschen, die diesen Prozess meistern, sind emotional extrem ausgeglichen, verfügen über große innere Stärke, inneren Frieden und Freiheit."[6]

Begriffsgeschichte von Frieden und Freiheit[Bearbeiten]

Zum ersten Mal nachweisbar ist die Begriffskombination im chinesischen Weisheitsbuch "I Ging (Yijing)", ‚Buch der Wandlungen‘, das bereits im 3. Jahrtausend vor Chr. entstanden sein soll: „Himmel und Erde vereinen sich: das Bild des Friedens“. Dieser „Kraftstrom“ des „Blühens und Gedeihens“ muss durch freiheitlich menschliches Handeln im Sinne einer „bändigende(n) und fördernde(n) Tätigkeit der Natur gegenüber“ geordnet und somit vor dem Chaos bewahrt werden (Kapitel 12). Diese frühe Vision eines friedensfreiheitlichen Zusammenlebens (Frieden als freie Entfaltung) wird in Kapitel 14 bestätigt. Hier klingen bereits erstaunlich moderne, an Kant erinnernde, Gedanken an: „Nicht Sonderzwecke des Ichs, sondern Menschheitsziele bringen dauernde Gemeinschaft unter Menschen hervor; darum heißt es: Gemeinschaft mit Menschen im Freien hat Gelingen.“[1]

Weiterhin findet sich das Begriffspaar im hedonistischen Denken des griechischen Philosophen Epikur von Samos (341 – 271 v. Chr.). Im Unterschied zur Weisheit des „I Ging“ geht es Epikurs Ethik allerdings nicht um die beste sozialpolitische Lebensform, sondern vielmehr um das höchste psychophysische Glück der Einzelnen: „Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, so meinen wir damit nicht die Lüste der Schlemmer, noch diejenigen, die auf dem Genuß beruhen, wie manche Unwissende oder Gegner oder Böswillige meinen, sondern die Freiheit von körperlichem Schmerz und den Frieden der Seele.“[2] Christof Rapp sieht diesen Zusammenhang bereits in Epikurs Grundbegriff der Ataraxie angelegt: „Das Studium von Epikurs Lehrbriefen verspricht eine Wirkung, für die man nicht umständlich zu werben braucht: ataraxia, d.h. Seelenruhe, Freiheit von seelischer Beunruhigung.“[3]

In seinem „Philippischen Reden“ („Philippika“) nenn der römische Staatsmann und Redner Cicero (106 – 43 v. Chr.) „die Ruhe, den Frieden, den inneren Ausgleich und die Freiheit“[4] in einem Atemzug. Auf Wunsch tapferer Männer folge notwendig „auf die Freiheit der Friede“[5]. Cicero verknüpft beide Wertbegriffe sehr eng miteinander: „Schon das Wort Friede ist köstlich und die Sache selbst heilbringend. Doch Friede und Knechtschaft sind weit voneinander entfernt: Friede ist ungestörte Freiheit, Knechtschaft hingegen das schlimmste aller Übel“[6].

Jean de la Bruyère (1645 – 1696), ein Vertreter der französischen Moralisten, versteht moralisches Handeln als Voraussetzung dafür, friedensfreiheitliche Verhältnisse genießen zu können: „Wenn man sich, zufrieden mit dem Seinigen, der Habe seiner Nachbarn hätte enthalten können, so hätte man allezeit Frieden und Freiheit genossen“[7]. Wie später auch der Aufklärer Jean-Jaques Rousseau (1712 – 1778) sagte: Die Unfreiheit und der Unfriede eines „alles verschlingenden Ehrgeizes“, „künstlicher Leidenschaften“ oder der „Sucht, sein Glück auf Kosten anderer“ zu suchen, „sind die erste Wirkung des Eigentums und das untrennbare Gefolge der entstehenden Ungleichheit.“[8]

Friedrich Schiller (1759 – 1805) beginnt sein Gedicht „Der Antritt des neuen Jahrhunderts“ mit der Frage nach einem gemeinsamen Ort für Frieden und Freiheit: „Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden, Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?“[9] Auch sein berühmtes „Lied von der Glocke“ (1799) nimmt das Begriffspaar auf: „Da zerret an der Glocke Strängen / Der Aufruhr, daß sie heulend schallt / Und, nur geweiht zu Friedensklängen, / Die Losung anstimmt zur Gewalt. / Freiheit und Gleichheit hört man schallen …“. Statt „Freiheit und Gleichheit“ müsse es aber heißen „Freiheit und Frieden“, wie die Schlusszeile des Liedes fordert: „Friede sei ihr erst Geläute“[10].

Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814), der Philosoph des deutschen Idealismus, betont, dass bei allem Streit um die richtige Auslegung der Freiheit diese mit Gewalt unverträglich sei, da Freiheiten den Toten (und Schwerkranken) nichts nützen: „Das, worüber gestritten wird, leidet keine Theilung: die Freiheit ist, oder ist nicht. Kein Kommen und Bleiben in der Gewalt, vor allem diesem steht ja der Tod“[11].

Der Dichter Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) wiederum musste sich selbst erst von dem Vorurteil freimachen, dass ein friedliches Leben, wie auch Friedrich Nietzsche meint, immer das Leben der Unterdrückten, Geknechteten und Zukurzgekommenen sei: „Ich meinte immer, um in Frieden mit der Welt zu leben, um die Menschen zu lieben und die heilige Natur mit wahren Augen anzusehen, müsste ich mich beugen, und, um anderen etwas zu sein, die eigene Freiheit verlieren. Ich fühle es endlich, nur in ganzer Kraft ist ganze Liebe“[12].

Im 20. Jahrhundert gibt der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr (1863 – 1934) dem Begriffstandem eine ästhetische und zugleich utopische Ausrichtung: „Kunst ist die Freiheit, das Glück und der Friede. Wir besitzen nichts von ihr als nur die Sehnsucht.“[13]

Eine klare politische Interpretation lässt den beiden Grundwerten der im KZ Oranienburg ermordete Schriftsteller Erich Mühsam (1878 – 1934) angedeihen. Ihm zufolge soll die Befreiung der Völker ihren ewigen Frieden bewirken: „Nieder die Grenzen, die uns geschieden! / Völkerfreiheit wirke das Band / ewiger Freundschaft von Land zu Land - / wirke der Völker ewigen Frieden.“[14]

Für Gerd Peter Bischoff sind „Friede und Freiheit … enge Verwandte“[15], und der Dalai Lama ist sich sicher, dass „(a)m Ende … Frieden, Vernunft und Freiheit die Oberhand gewinnen“[16].

Da scheint es fast überflüssig, auf den universalen Charakter beider Begriffe zu verweisen: „Frieden und Freiheit sind universelle Begriffe. Was für eine Frechheit ist es, diese nur für sich zu beanspruchen?“[17]

Nach Gudrun Zydek ist „Toleranz … die Grundlage der Freiheit schlechthin und somit eine wichtige Voraussetzung für den Frieden unter den Menschen!“[18]

Und ein schönes Bild schließlich reimt Jutta Schulte: „Du könntest für mich eine Taube sein, / die von Freiheit singt und mir Frieden bringt.“[19]


[1] https://web.archive.org/web/20170505101917/http://gutenberg.spiegel.de/buch/i-ging-1325/14

[2] Epikur: Der Brief an Menoikeus, in: Wilhelm Nestle: Die Vorsokratiker, 2 Bände, Jena 1923.

[3] Christof Rapp: Lebensform und Naturforschung bei Epikur, PDF, S. 4.

[4] Cicero: Philippische Reden / Philippika, Berlin 2013, S. 257.

[5] Ibid., S. 41.

[6] Ibid., S. 157.

[7] Jean de La Bruyére (1645 – 1696): Die Charaktere oder die Sitten im Zeitalter Ludwigs XIV., Hildburghausen 1817, S. 219.

[8] Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn / München / Wien / Zürich 1993, S. 209.

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Antritt_des_neuen_Jahrhunderts

[10] https://de.wikisource.org/wiki/Das_Lied_von_der_Glocke_(1800), Zeile 363 ff.

[11] Johann Gottlieb Fichte: Die Staatslehre, oder über das Verhältniß des Urstaates zum Vernunftreiche in Vorträgen, gehalten im Sommer 1813 auf der Universität zu Berlin, posthum hrsg. von I.H. Fichte, 1820, S. 51.

[12] Friedrich Hölderlin, Brief an Georg Christian Landauer, Februar 1801.

[13] Hermann Bahr: Zur Kritik der Moderne. Gesammelte Aufsätze, Petersburg 1891.

[14] Erich Mühsam: Versöhnung, Quelle: https://de.wikisource.org/wiki/Versöhnung

[15] Gerd Peter Bischoff: Das Buch für dein Leben, Leipzig 2008.

[16] Dalai Lama: https://www.frizzmag.de/people/politik/der-dalai-lama-kommt-nach-darmstadt/

[17] Ümit Özsaray: https://www.aphorismen.de/suche?f_autor=10410_Ümit+Özsaray&f_thema=Frieden

[18] Gudrun Zydek: Komm, ich zeige dir den Weg! Unser Weg durch das Leben in inspirierten Schriften, Offenbach a.M. 1999.

[19] Jutta Schulte: https://www.aphorismen.de/suche?text=arm&f_rubrik=Gedichte&f_autor=3383_Jutta+Schulte&f_zeit=heute

Frieden und Freiheit in der Philosophie[Bearbeiten]

Als Friedensfreiheit, auch Freiheitsfriede, bezeichnet der Philosoph Ulrich Müller sein rechtsmoralisches Doppelprinzip. Es bezeichnet die beiden höchsten moralischen wie rechtlichen Werte. An ihnen müssen sich alle Handlungsziele menschlicher Gesellschaften bemessen lassen. Das duale Prinzip setzt sich zusammen aus den Einzelprinzipien des universalen Friedens und der allgemeinen Freiheit, die moralisches Handeln nur im Tandem erfolgreich anleiten können.

In diesem Konzept bedeutet Frieden im Kern Gewaltlosigkeit und nicht etwa Machtlosigkeit im Sinne eines staatenlosen Natur- oder anarchischen Gesellschaftszustands. Hannah Arendt fasst diesen Unterschied so zusammen: "Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überläßt man sie den ihr innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel (...) das Verschwinden von Macht."[7]

Freiheit wiederum bezeichnet das Ausüben-Können von Menschenrechten der ersten Generation, der sogenannten Freiheits- oder Autonomierechte, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sowie Meinungs-, Religions-, Bewegungs- oder Berufsfreiheit. Nach Müller können diese mit dem Freiheitsprinzip zusammengefassten unveräußerlichen Rechte der Selbstbestimmung (Autonomie) nur dann sicher ausgeübt werden, wenn das menschliche Zusammenleben durch Frieden im Sinne von Gewaltlosigkeit bestimmt ist: „Das oberste moralische Kriterium (Frieden) ist vom primären Menschenrecht (Freiheit) aus vernünftigen Gründen nicht wegzudenken: Im Krieg zählen Menschenrechte nichts, aber "ohne sie ist wirklicher Frieden nicht möglich.“[8]

Friedensfreiheitliche Ethik[Bearbeiten]

In aktualisierender und kritisch-konkretisierender Fortführung der ethischen Theorien von Immanuel Kant, Hans Jonas und Hannah Arendt formuliert Müller 2013 sein moralisches Grundprinzip in folgendem „sozialen Imperativ“: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit einem dauerhaft freien und friedlichen Zusammenleben von Menschen auf der Erde. Oder, negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung ein dauerhaft freies und friedliches Zusammenleben von Menschen auf der Erde nicht gefährden. Vereinfacht gesagt: Handle so, dass deine Absicht immer auch ein wirklich humanes Zusammenleben einschließt. Negativ gefasst: Gefährde nicht die Bedingungen für ein wirklich humanes Zusammenleben.“[9]

Friedensfreiheitliche Rechtsphilosophie[Bearbeiten]

Das moralische Prinzip der Friedensfreiheit bildet auch die inhaltliche Grundlage von Müllers 2017 erschienener Rechtsphilosophie. Ihr zufolge besteht lediglich ein „grundsätzliche(r) Modalitätsunterschied zwischen moralisch gutem und rechtlich gutem Handeln“: Während (m)oralisch gutes Handeln (…) immer aktives, helfendes oder unterstützendes, auch rettendes Handeln in friedensfreiheitlicher Bedrohung, Not oder Verletzung“, also „ein maximaler Einsatz für umfassenden Frieden und allgemeine Freiheit“ darstellt,  bezeichnet das rechtlich gute Handeln nur „das Minimum dessen, was von jeder und jedem als Einsatz für die friedliche Freiheit und den freiheitlichen Frieden zu fordern ist“.[10] in dem Sinne, dass er oder sie „die normativen Gehalte des Friedens und der Freiheit achtet, sichert und schützt.“[11]

Friedensfreiheitliche Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie[Bearbeiten]

Auch seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie von 2021 gibt Ulrich Müller eine friedensfreiheitliche Ausrichtung, die in einem wissenschaftlichen Imperativ ausformuliert wird. Dieser ergänzt den sozialmoralischen und den sozialrechtlichen durch einen wissenschaftsethischen Orientierungsgrundsatz: „Forsche so, dass die Ergebnisse deiner Forschungen mit Rücksicht auf eine friedenfreiheitliche Orientierung aller die begründete Verbesserung bisheriger Forschungsergebnisse sein können.“[12] Mit dieser Konzeption einer friedensfreiheitlichen Wissenschaft legt Müller zugleich Leitlinien einer ethisch begründeten Wissenschaftskritik vor. Sie will den Gefahren einer grenzenlosen Forschung und vor allem Anwendung von Forschungsergebnissen, z. B. in den Bereichen Genforschung, Künstliche Intelligenz oder Neuro-Enhancement, Rechnung tragen.

Herleitung der Friedensfreiheit[Bearbeiten]

Das Freiheitsprinzip leitet Müller ab aus der Menschheitszweckformel des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“[13] Die darin geforderte Anerkennung der Selbstzweckhaftigkeit aller menschlicher Wesen wird gedeutet als deren unbedingt anzuerkennende gleiche Freiheit im Sinne der Menschenrechte. Das heißt, die Begründung der beiden Elementarrechte, nicht etwa Naturrechte, vielmehr Kulturrechte, ist eine humanistische: "Nicht unsere Natürlichkeit, sondern unsere kulturell erworbene Vernünftigkeit, etwas Künstliches also, gilt als letzter Begründungsanker für das Gesetz unseres Zusammenlebens." Dessen Maßstab "ist die Möglichkeit für ein friedensfreiheitliches Leben-Wollen jedes Einzelnen, aus dem dann das friedensfreiheitliche Leben-Sollen aller Individuen, Institutionen und Gesellschaften folgen muss."[14] Das Friedensprinzip wiederum wird im Anschluss an Kants sozialpolitische Forderung "Es soll kein Krieg sein"[15] verstanden als "Bedingung der Möglichkeit von Freiheit": "Weder ist umfassender Frieden ohne allgemeine Freiheit überlebensfähig, noch allgemeine Freiheit ohne umfassenden Frieden."[16] Kurz gesagt: Frieden ist nicht alles, aber "ohne Frieden ist alles nichts".[17]

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1, Absatz 2, Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Berlin 2001, S. 47.
  2. Norbert Diesenberg: Grundgesetz und Demokratie. Ein Plädoyer für eine philosophische Grundlegung. Würzburg 2021, S. 303.
  3. Konrad Adenauer: Weihnachtsansprache 1952, Quelle: Adenauers Rundfunkansprache Weihnachten 1952
  4. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M. 1977, S. 72.
  5. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Darmstadt 1998, S. 153.
  6. Wolf Singer, Matthieu Ricard: Jenseits des Selbst. Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch. Berlin 2017, S. 317.
  7. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München, Berlin 2015, S. 57.
  8. Ulrich Müller: Frieden und Freiheit. Eine Kritik der sozialen Vernunft, Königshausen & Neumann, Würzburg 2013, ISBN 978-3-8260-5158-6, S. 105.
  9. Ulrich Müller: Frieden und Freiheit. Eine Kritik der sozialen Vernunft, Würzburg 2013, S. 56.
  10. Ulrich Müller: Nathans Baum. Eine Kritik der rechtlichen Vernunft, Würzburg 2017, S. 300.
  11. Ulrich Müller: Nathans Baum. Eine Kritik der rechtlichen Vernunft, Würzburg 2017, S. 299.
  12. Ulrich Müller: Friedensfreiheitliche Erkenntnis und Wissenschaft. Eine Kritik der neurophilosophischen Vernunft, Würzburg 2021, S. 198.
  13. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M. 1977, S. 61.
  14. Ulrich Müller: Nathans Baum, a.a.O., S. 17.
  15. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M., S. 478.
  16. Ulrich Müller: Das Gesetz des Zusammenlebens. Eine "friedensfreiheitliche" Begründung von Recht und Moral, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 102, 2016/3, S. 348.
  17. Ulrich Müller: Nathans Baum, a.a.O., S. 18.


Diese artikel "Friedensfreiheit" ist von Wikipedia The list of its authors can be seen in its historical and/or the page Edithistory:Friedensfreiheit.



Read or create/edit this page in another language[Bearbeiten]