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Interdisziplinäres dimensionales Machtkonzept

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Das interdisziplinäre dimensionale Machtkonzept von Melanie Misamer basiert auf einer sozialpsychologisch neutralen Auffassung von Macht. Sie kann, als zunächst neutrales Potenzial, auf die eine oder andere Weise (in einem Kontinuum zwischen konstruktiv und destruktiv) eingesetzt werden.

Etymologie[Bearbeiten]

Das Wort Macht kann auf zwei ähnlich lautende indogermanische Wurzeln zurückgeführt werden. Zum einen ist dies der Begriff mag- für kneten, pressen, formen und zum anderen auf den Begriff magh- für machen im Sinne von können, vermögen, fähig sein.

Klassische Machtkonzepte[Bearbeiten]

Macht ist kein neues Phänomen, auch wenn es immer wieder aktuell wird. Nach Dacher Keltner haben Menschen meist die machiavellistische (destruktive, zerstörerische, zwingende) Macht im Kopf, wenn sie an Macht denken.[1] Wird das Machtkonzept in seiner Historie betrachtet, finden sich unterschiedliche Konnotationen:

Destruktiv

Geprägt von Dominanz und Submission mit ausschließlich destruktiver Konnotation beschreibt Niccolò Machiavelli[2] Macht, der selbige als Selbstzweck betrachtete, der erhalten und vergrößert werden muss, auch um den Preis, anderen Schaden zuzufügen. Auch Weber geht von Macht als Chance aus, den eigenen Willen gegen Wiederstrebungen anderer durchzusetzen.[3]

Differenziert

Obwohl auf verschiedenen Grundannahmen basierend, grundsätzlich als ein „gegen andere“ (destruktiv) und einem „für bzw. mit andere(n)“ verstehen Foucault,[4] Arendt[5] und Claessens[6] den Machtbegriff.

Konstruktiv

Ausschließlich karitativ (für und im Sinne anderer) versteht Glöckler[7] Macht.

Subjektivität

Foucault[4] und Machiavelli[2] verweisen jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln auf die Subjektivität von Macht.

Allgegenwärtigkeit von Macht

Häufig wird implizit (Arendt,[5] Claessens,[6] Luhmann,[8] Weber[3]) oder explizit (Foucault,[4] Glöckler,[7] Machiavelli[2]) von einer Allgegenwärtigkeit (oder Unumgehbarkeit) von Macht ausgegangen.

Zur Unschärfe des Machtkonstrukts[Bearbeiten]

Die Unschärfe in Bezug auf die Frage, was Macht an sich ist, findet sich in älteren und jüngeren Konzepten sowie auch in verschiedenen Disziplinen, wie der Psychologie, der Soziologie, der politischen Philosophie und Anthroposophie.

Macht wird definiert als:

  • Fähigkeit (Arendt,[5] Claessens,[6] Weber[3])
  • Mittel (Glöckler,[7] Luhmann[8])
  • Handlung (Foucault[4])
  • oder aber gar nicht definiert, sondern als Ziel benannt (Machiavelli[2])

Definitionen geprägt von Dominanz und Submission[Bearbeiten]

  • Kurt Lewin definiert Macht als Formel: Die Macht einer Person über eine andere Person ist das Verhältnis maximaler Kraft, die die eine Person in die andere Person induzieren kann, dividiert durch den maximalen Widerstand, der anderen Person, den sie entgegensetzen kann. Anders beschrieben, Macht beschreibt den „Quotienten der maximalen Kraft, die B über A hat und den maximalen Widerstand, den A aufbieten kann.“[9]
  • Weber definiert Macht als die Chance „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstrebungen durchzusetzen.“[3]
  • Ähnliche durch Dominanz und Submission geprägte aktuellere Definitionen lassen sich häufig finden, z. B. …

Die ausschließlich negative Konnotation von Macht (als Ausübung von Dominanz von Person A mit Wirkung einer Submission auf Person B)[1] findet sich also historisch sowie aktuell und über verschiedene Disziplinen hinweg häufig.

Problem der Unschärfe und Lösung durch eine neutrale Machtdefinition[Bearbeiten]

Es wird meist nicht unterschieden zwischen einem durch Machtanwendung angestoßenen freiwilligen Verhalten einer Person, auf die Macht ausgeübt wird, das unter Umständen sogar positiv für diese Person (auf die Macht ausgeübt wird) sein kann, und unfreiwilligem, also erzwungenem Verhalten.[17] Beides ist jedoch möglich: Macht kann im negativen Sinne Manipulation oder Vortäuschung falscher Tatsachen sein. Genauso kann im positiven Sinne anderen durch das „Malen von positiven Zukunftsvisionen“ Hoffnung geben werden, sich eine positivere Lebensweise zu gestalten. Macht kann (plakativ ausgedrückt) als Waffe oder als Werkzeug genutzt werden:

„Ein Messer kann eine Waffe oder ein Werkzeug sein; es kommt eben darauf an, wofür man es benutzt. Man kann es für kriegerische, aggressive Handlungen nutzen oder man kann damit Kartoffeln für eine hungrige Familie schälen, damit sie etwas zu essen bekommen.“

Wenn Macht nicht nur für andere destruktiv, sondern auch konstruktiv angewendet werden kann, muss sie zunächst als neutrales Potenzial definiert werden. Beispielsweise sozialpsychologisch im Sinne des sozialen Einflusses auf andere bzw. als ein Einwirken auf andere. Damit ist Macht per se nicht negativ oder positiv.[18] Solche oder ähnlich gelagerte neutrale Definitionen sind zu finden bei Argyle,[19] Russell,[20] Scholl,[21][22] Dacher Keltner[1][23] oder Schmalt und Heckhausen.[24] Letztere definieren, dass „von Macht offenbar immer dann zu sprechen [ist], wenn es darum geht, dass jemand in der Lage ist, einen anderen zu veranlassen, etwas zu tun, was er sonst nicht tun würde.“[24] Von einer solchen Machtdefinition – als zunächst neutralem Potenzial – ausgehend, kann Macht auf die eine oder andere Weise (auf einem dimensionalen Kontinuum) eingesetzt werden. Macht ist in dieser Lesart zunächst ein Potenzial, das im konstruktiven Sinne gebraucht oder aber im destruktiven Sinne missbraucht werden kann.[18] Damit ist die Art der Anwendung von Machtmitteln leichter zu fassen und klarer voneinander abgrenzbar, weil nicht mehr diffus eindimensional (meist einseitig und negativ konnotiert) operationalisiert.

Hinweise auf die Dimensionalität des Machtkonstrukts[Bearbeiten]

Aus Sicht verschiedener Disziplinen gibt es jedoch Hinweise darauf, dass Macht ein zweidimensionales und somit nicht ausschließlich negativ konnotiertes Konstrukt ist (z. B. in der allgemeinen Psychologie bei Marwell und Schmitt,[25] bei McClelland,[26] bei Mulder,[27] in der organisationspsychologischen Führungsforschung bei Keltner,[1] bei Scholl,[21] in der Pädagogik bei Plaßmann,[28] in der Soziologie bei Foucault,[4] bei Claessens,[6] bei Etzioni,[29] in der Sozialen Arbeit bei Kraus,[30] bei Staub-Bernasconi[31] oder in der Politik bei Arendt,[5] bei Partridge[32]).

Beispiele:

  • McClelland unterscheidet im Rahmen der Machtmotivationstheorie das personalisierte (hohes Machtmotiv und geringe Aktivitätshemmung) von dem sozialisierten (hohes Machtmotiv und hohe Aktivitätshemmung) Machthandeln. Beim personalisierten Machthandeln sollen die eigenen Interessen durchgesetzt werden, beim sozialisierten Machthandeln sollen gemeinschaftliche Interessen durchgesetzt werden.[26]
  • Mulder unterscheidet zwischen „angemessener“ und „unangemessener“ Nutzung von Machtmitteln.[27]
  • Etzioni unterscheidet zwischen power (suspension or suppression based) und influence (commitment based).[29]
  • Partridge unterscheidet power (A kontrolliert B, wobei die Wünsche von A Vorrang haben) und influence (A beeinflusst B unter Berücksichtigung der Wünsche von B).[32]
  • Scholl unterscheidet promotive control (Einflussnahme) und restrictive control (Machtausübung).[22]

Differenzierte Ideen zur Macht, die die Beeinflussung anderer dimensional „Gegen andere“ und „Für bzw. mit andere(n)“ aufteilen, gibt es also bereits historisch, in verschiedenen Disziplinen, und insbesondere (auch aktuell) in der organisationspsychologischen Führungsforschung[1][21][33] und dort sogar mit empirischer Evidenz.[1][22] Sie sind aber bisher, im Vergleich zur eindimensionalen Sicht auf Macht, eher die Ausnahme.[34] Auch ältere Forschungsergebnisse zum multifaktoriellen Ansatz von Marwell und Schmitt legen nahe, dass sich Machtmittel dimensional einteilen lassen.[25]

Interdisziplinäres dimensionales Machtkonzept[Bearbeiten]

Ein dezidiertes und empirisch fundiertes dimensionales Machtkonzept findet sich bei Scholl, das für andere Forschende die Basis bildete, von dort aus weiterzudenken und zu forschen.[17][35][36] Bei Scholl wird Machtanwendung neutral definiert als soziale Einwirkung interpersonalen Verhaltens, dabei stehen Dominanz und Submission für die Asymmetrie zwischen zwei Akteuren. Sein Konzept aus der organisationspsychologischen Führungsforschung basiert auf kulturvergleichenden Studien(z. B.[37]). Er geht von evolutionär erworbenen Basisdimensionen des interpersonalen Verhaltens aus.[21] Scholl versteht soziale Einwirkung (englisch: power, deutsch: Einflussnahme bzw. Machtausübung) als Potenzial bzw. Fähigkeit, die im Einklang mit den Interessen anderer (promotive control) und gegen die Interessen anderer (restrictive control) verwendet werden kann.[38] Scholl belegt diese Differenzierung empirisch mehrfach und dezidiert.[22][39][40] Bei der Machtanwendung als restrictive control, liegt im Gegensatz zur promotive control, ein Machtmissbrauch vor, weil Macht gegen die Interessen und damit zum Nachteil anderer angewendet wird. Bei der Variante der Machtanwendung von promotive control wird dagegen im Interesse und damit nicht zum Nachteil anderer agiert. Beide Arten der Machtanwendung beschreiben Wege der sozialen Einflussnahme aus einer Machtposition heraus, wobei Scholl bei restrictive control immer wieder das Missbrauchsrisiko betont und Macht aus seiner Sicht daher an Regularien (externe Kontrollinstanzen, Prinzipien o. Ä.) geknüpft sein sollte.[41] Ergänzend lässt sich Keltner anführen, der Macht ebenfalls als neutrales Potenzial definiert und Machtkorrumpierung als Folge missbräuchlicher Anwendung von Macht versteht.[1]

Macht in einem Spektrum zwischen konstruktiver und destruktiver Machtanwendung[Bearbeiten]

Melanie Misamer subsumiert bisherige historische, aktuelle Erkenntnisse zur Macht (z. B., dass Macht dimensional, situationsspezifisch, relativ und janusköpfig ist sowie anfällig macht, hiervon korrumpiert zu werden[17][42]) und insbesondere die dimensionalen und evidenzbasierten Machtkonzepte. Hieraus konzipiert sie ein dimensionales Machtkonzept, das disziplinübergreifende Aspekte miteinander verbindet. Ihr Konzept geht ebenfalls von Macht als einem zunächst neutralem Potenzial aus und kann auf die eine oder andere Weise eingesetzt werden:

Konstruktive Machtanwendung

Machthandlungen im Sinne und zum Nutzen und mit einem Gewinn für das Gegenüber (berufsbezogen beispielsweise auch im Sinne berufsethischer Prinzipien)

Destruktive Machtanwendung

Machthandlungen explizit nicht zum Nutzen oder sogar zum Schaden für das Gegenüber[35][17][43][36][44]

Graubereiche

Es gibt natürlich auch Graubereiche dazwischen, jedoch zeigt die Forschung, dass Personen entweder zur einen oder anderen Art der Machtanwendung neigen.[41][45]

Um konstruktive und destruktive Machtanwendung empirisch abzusichern, wurden interdisziplinär in den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Soziale Arbeit und (politische) Philosophie theoretische Abhandlungen wie auch empirische Studien recherchiert, abgeglichen, subsumiert und anschließend in eigenen Studien faktorenanalytisch reliable Skalen konstruktiver und destruktiver Machtanwendung ermittelt (bisher für die Soziale Arbeit,[36][46] für den Schulkontext,[17] für die Kindheitspädagogik[35]). Das so abgesicherte dimensionale Machtkonzept bildet die Basis für das Handlungskonzept „Machtsensibilität“, das in asymmetrischen Situationen den schwächeren Part absichert, u. a. vor den Auswirkungen destruktiver Machanwendung und Ohnmachtserleben.

Auswirkungen konstruktiver und destruktiver Machtanwendung[Bearbeiten]

Aus der organisationspsychologischen Führungsforschung ist bekannt, dass die Art der Machtanwendung Auswirkungen auf die betriebliche Zusammenarbeit und die Arbeitsergebnisse auf verschiedenen Ebenen hat. Konstruktive Machtanwendung (nach Scholl promotive control) führt zur Wahrung und Förderung beiderseitiger Interessen und hat positivere Konsequenzen als die destruktive Machtanwendung (restrictive control).[47] Studien hierzu zeigen, dass konstruktive Machtanwendung durch Führungskräfte gegenüber Mitarbeitenden zu kooperativer Entscheidungsfindung beiträgt.[22][48][49] Unter Anwendung von konstruktiver Machtanwendung erhöhen sich die Handlungsfähigkeit, die Effektivität von Mitarbeitenden und die Produktion neuen Wissens im Unternehmen. In positivem Zusammenhang steht konstruktive Machtanwendung auch mit dem Finden von Konsens, mit Sympathie und mit Kooperativität[49] sowie mit der Motivation zu kooperieren.[48]

Destruktive Machtanwendung verzerrt die Informationsverarbeitung bei der Macht ausübenden Person[39], was letztlich die Qualität von Prozessen und Entscheidungen[22] und die Einsichtsfähigkeit beeinträchtigt.[50][51] Destruktive Machtanwendung löst bei Personen, auf die die Macht ausgeübt wird, negative Gefühle (wie Ärger, Rachegefühle, Frustration, Traurigkeit), Widerstand und Hilflosigkeit aus.[23][40] Es kann durch diese Art der Machtanwendung eine äußerliche Anpassung erreicht werden, nicht aber eine intrinsische Motivation zum bestmöglichen Einsatz von Kenntnissen und Fähigkeiten.[39] Weitere Folgen von destruktiver Machtanwendung sind die geringere Produktion neuen Wissens, eine Verringerung der Arbeitseffektivität der Mitarbeitenden, geringeres Finden von Konsens, geringere Sympathie gegenüber der Führungskraft und geringerer Kooperativität. Weitere Konsequenzen können Reaktanz und Hilflosigkeit aufseiten der Mitarbeitenden sein.[47]

Verzerrte Informationsverarbeitung und Korrumpierung durch destruktive Machtanwendung

Die psychologische Forschung zeigt, (destruktive) Machtanwendung kann korrumpieren. Korrumpierung kann sich auf verschiedene Arten zeigen: 1) Machtstreben als Selbstzweck (Macht wird über alle anderen Werte gestellt und es wird stetig nach mehr Macht gestrebt. Die Korruption bezieht sich darauf, dass Macht zum Selbstzweck wird.), 2) Machtanwendung als Mittel zum Zweck (Durch den Wunsch nach persönlichem Gewinn wird rücksichtsloses Verhalten motiviert. Die Korruption bezieht sich darauf, dass Macht als Mittel zum Zweck dient, ein Maximum an Gelegenheiten zu nutzen, um die eigenen Taschen zu füllen.), 3) Verzerrte Selbstwahrnehmung (Durch die verzerrte Selbstwahrnehmung, ausgelöst durch Macht, bezieht sich die Korruption darauf, dass Machthabende eine überhebliche und selbstherrliche Sichtweise ihres eigenen Wertes entwickeln können, was wiederum das Mitgefühl für andere hemmt.)[52]

Es wurden konkrete Stufen gefunden, wie Korrumpierung abläuft:

Korrumpierungsstufen (nach Kipnis)
Stufe Verhalten
1 Die Einsatzwahrscheinlichkeit von Macht: Mit Machtzuwachs steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Selbige eingesetzt wird
2 Der Eindruck, Kontrolle ausüben zu können: Je mehr Macht angewendet wird, desto stärker ist der Kontrolleindruck
3 Die Abwertung anderer: Sich Unterwerfende werden durch die machtanwendende Person abgewertet
4 Die Distanzierung gegenüber anderen: Die abgewertete Person tritt in soziale Distanz zur machtanwendenden Person
5 Übersteigerung des Selbstwerts: Machtverfügung und -gebrauch steigern das Selbstwertgefühl der machtanwendenden Person (bis zur Übersteigerung)

Korrumpierung zeigt sich beispielsweise dadurch, dass verfügbare härtere Machtmittel auch ohne Notwendigkeit genutzt werden. Dies führt wiederum zu der Überzeugung, dass es sinnvoll und richtig ist, die eigene Macht genauso anzuwenden. Diese Rechtfertigung basiert auf der Abwertung anderer und Aufwertung der eigenen Person. Hierdurch findet eine Distanzierung gegenüber denen statt, auf die die Macht ausgeübt wurde. Und das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass weiterhin Machtüberlegenheit demonstriert wird.[44]

Bereits die Vorstellung, über Macht zu verfügen, hat Auswirkungen auf das Handeln

Macht hat ein hohes Eigenwirkpotenzial. Das heißt, es wirkt bereits vor der Anwendung. Es reicht bereits, sich vorzustellen, mächtiger zu sein als andere, oder die Erinnerung an eine Situation, in der man sich mächtig fühlte. Das führt zur Änderung der Wahrnehmung sowie der Einschätzung einer Situation und in der Folge wird auch das Handeln beeinflusst. Das Eigenwirkpotenzial von Macht resultiert aus dem erhebenden Gefühl, das mit Macht bzw. einem sozialen Status einhergeht, und den neuen Möglichkeiten, die zuvor nicht möglich gewesen wären, die aber nun neu hinzugekommen sind. Die neue Macht bzw. der neue Status wurden dabei noch nicht angewendet. Es reicht das Gefühl, dass man es könnte.[1] Daher ist eine Sensibilisierung für die eigene Machtanwendung wichtig, um solchen oder ähnlichen Fallstricken bewusst begegnen zu können.[44]

Das Verhältnis zwischen Macht und Ohnmacht[Bearbeiten]

Ohnmacht (bzw. erlernte Hilflosigkeit) bedeutet nach Seligman gefühlte oder tatsächliche Machtlosigkeit, Kontrollverlust und beschreibt ein Gefühl von Hilflosigkeit und mangelnden Möglichkeiten, die eigene Umwelt zu beeinflussen, um eigenen Bedürfnissen und Wünschen nachzukommen.[53] Destruktive Machtanwendung und Ohnmacht stehen sich diametral gegenüber, wie es in den von Dominanz und Submission geprägten Machtkonzepten weiter oben beschrieben wurde. Das bedeutet, Macht- und Ohnmachtserleben bedingen sich bei destruktiver Machtanwendung gegenseitig. Daher muss, wenn beschrieben wird, was destruktive Macht bewirkt, gleichzeitig beschrieben werden, was Ohnmachtserleben und Machterleben bewirken. Es wurde herausgefunden, dass Machterleben mit stereotypen Denkweisen, Outgroup-Diskriminierung oder Ingroup-Favorisierung einhergeht. Im Gegensatz dazu geht Ohnmachtserleben einher mit individuierenden Denkweisen, Ingroup-Diskriminierung und Outgroup-Favorisierung.

Macht hat zudem ein hohes Eigenwirkpotenzial und wirkt bereits vor der Anwendung. Das wiederum beeinflusst die Wahrnehmung, die Einschätzung von Situationen und in der Folge auch das Handeln.[54] Es gibt also diverse Problematiken, die Machtanwendung mit sich bringen kann, weshalb ein sensibler Umgang mit ihr notwendig ist.[44] Unter anderem deshalb wurde das Handlungskonzept der Machtsensibilität entwickelt, mit dessen Hilfe destruktive Strukturen frühzeitig wahrgenommen und durch konstruktive Strategien ersetzt werden können.[44][55][56] Die bio-psycho-sozialen Folgen von Ohnmachtserleben sind kaum zu unterschätzen. Der Preis, der hierfür gezahlt wird, ist hoch. Und Ohnmacht ist nicht selten das Ergebnis, wenn andere von ihrer Macht korrumpiert wurden und diese dann auf destruktive Weise einsetzen, sagt der Sozialpsychologe Dacher Keltner nach 20-jähriger Forschung zum Thema.[1] Nicht zuletzt deshalb gibt es immer wieder die Forderung, dass Macht an Regularien geknüpft werden sollte. Das können Stabsstellen sein, die Kontrollfunktionen durchführen oder betriebliche, berufsethische oder persönliche Prinzipien, die als Richtschnur für das eigene Handeln herangezogen werden können.[44]

Das Handlungskonzept Machtsensibilität[Bearbeiten]

Auch wenn es bereits Beiträge zur Macht gibt, ist der sensible Umgang hiermit wenig betrachtet worden, obwohl er immer wieder, meist indirekt, thematisiert wird. Ein Beispiel für eine Thematisierung ist der Bereich Soziale Arbeit in den berufsethischen Prinzipien des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit[57] Empirisch wurde Machtsensibilität bisher nicht beachtet. Weil Macht ein universelles Konstrukt ist, das in verschiedensten Bereichen des sozialen Lebens ähnlich wirkt, müssen sowohl die Beschreibung eines Machtkonzepts als auch die Reflexion eines sensiblen Umgangs mit Macht interdisziplinär gedacht sein. Es gibt Theorien und Forschung zur Macht aus der Psychologie, den Erziehungswissenschaften, der Sozialen Arbeit, der Philosophie und der Soziologie, die Machtmechanismen, zwar teilweise mit anderen Worten, aber im Tenor ähnlich beschreiben:

  • Macht ist situationsspezifisch, in einem Bereich verfügt jemand über Macht, in einem anderen jedoch nicht. Jemand kann Führungskraft am Arbeitsplatz, aber nur Ersatzspieler(in) im Fußballverein sein.
  • Macht ist relativ, denn Machtmittel wirken nur, wenn die andere Seite möchte oder braucht, was man bieten kann, oder wenn sie davon abhängig ist.
  • Macht ist „janusköpfig“, man beäugt die Macht anderer eher kritisch, während man selbst gern mehr davon hätte. Macht wirkt bereits, bevor sie angewendet wurde.
  • So können Korrumpierungsautomatismen wirksam werden.

Fallstricke bei der Machtanwendung können die unterschiedliche Wahrnehmung von Machtausübung, je nach Blickwinkel sein, der Perseveranzeffekt, der fundamentale Attributionsfehler oder der Halo-Effekt. Wird das Wissen aus diesen Bereichen zusammengetragen und gebündelt, können das Machtkonstrukt und der sensible Umgang hiermit breiter und umfassender beschrieben werden als aus dem Blickwinkel einer Disziplin heraus. Bei der Machtsensibilität handelt es sich um eine Kategorie, die auf einer interdisziplinär verordneten Idee von Macht basiert. Es ist ein (in Teilen bereits) evidenzbasiertes Handlungskonzept für Interaktionen, das in machtasymmetrischen Situationen den „schwächeren Part“ absichert und partizipativ stärkt.[44]

Machtanwendung und (berufsethische) Prinzipien[Bearbeiten]

Aus der organisationspsychologischen Forschung ist bekannt, dass Prinzipien bzw. (ethische) Richtlinien positive Effekte auf die Art der Machtanwendung gegenüber anderen haben. Das reicht von weniger selbstbezogenen Interessen bei Menschen mit Prinzipien[58] bis hin zu einem Zusammenhang zwischen Prinzipien bzw. (berufsethischen) Richtlinien und dem Einsatz von Machtmitteln gegenüber anderen.[59] Misamer zeigte für die Soziale Arbeit[36] und die Kindheitspädagogik,[44] dass eine höhere Verpflichtung gegenüber (berufsethischen) Prinzipien mit geringerer destruktiver Machtanwendung einhergeht. Prinzipien bzw. (ethische) Richtlinien können damit als Puffer gegen destruktive Machtanwendung dienen.[43] In einer Untersuchung zum sensiblen Umgang mit der eigenen Macht standen berufsethische Prinzipien bei Sozialarbeitenden in positivem Zusammenhang mit deren Machtsensibilität.[55]

Literatur[Bearbeiten]

  • Melanie Misamer, Marcel Hackbart, Barbara Thies: Der Umgang mit Macht in der Sozialen Arbeit. Einschätzungen aus der Kinder- und Jugendhilfe. Soziale Arbeit 2017, 5/6, 450–456.
  • Melanie Misamer: Machthandeln und professionsethische Prinzipien in der Kinder- und Jugendhilfe. Soziale Passagen 2018, 10 (2), 231–244.
  • Melanie Misamer: Machtsensibilität bei Sozialarbeitern – Impulse aus pädagogisch-psychologischer Sicht. EREV-Fachzeitschrift Evangelische Jugendhilfe 2019, 96, 164–173.
  • Melanie Misamer, Barbara Thies: Macht- und statussensible Hochschullehre. In David Kergel, Birte Heidkamp (Hrsg.), Praxishandbuch Habitussensibilität und Diversität in der Hochschullehre. Prekarisierung und soziale Entkopplung – transdisziplinäre Studien. (S. 497–514). 2019 Wiesbaden Springer VS.
  • Melanie Misamer: Macht und Machtmittel in der Schule: Eine empirische Untersuchung. 2019 Lage: Jacobs
  • Melanie Misamer: Gewalt von Fachkräften gegenüber Adressatinnen und Adressaten – Zur Entwicklung einer Machtsensibilität bei Sozialarbeiterinnen und -arbeitern. CORAX – Fachmagazin für Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen 2020, 2, 26–27.
  • Melanie Misamer: Der verantwortungsvolle Machtgebrauch. EREV-Fachzeitschrift Evangelische Jugendhilfe 2020, 97, 4–12.
  • Melanie Misamer, Markus Flentje, Alexander Stötefalke, Hendrik Eismann: Usage of power in the education of paramedics – Survey study for analysis of a questionnaire and situation assessment. Journal for Medical Education, (38) 6., 2021 Online
  • Melanie Misamer, Wolfgang Scholl: Eingeschätzte Machtanwendung in der Kindheitspädagogik. Zur Wichtigkeit von Prinzipienorientierung. Soziale Arbeit 2021b, 5, 178–183.
  • Melanie Misamer, Lena Hennecken: Machtsensibilität in der Praxis Sozialer Arbeit. Eine explorative Analyse. EREV-Fachzeitschrift für evangelische Jugendhilfe 2022, 99, 194–201.
  • Melanie Misamer: Machtsensibilität in der Sozialen Arbeit. Grundwissen für reflektiertes Handeln 2023. Stuttgart: Kohlhammer.

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 1,8 Dacher Keltner: The Power Paradox: How We Gain and Lose Influence. Penguin PR, London 2016, ISBN 978-1-59420-524-8.
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 Niccolò Machiavelli: Il Principe/Der Fürst Italienisch/Deutsch (Philipp Rippel, Übers.). Stuttgart, Reclam 1986, ISBN 978-3-15-001219-2 (Erstausgabe: 1532).
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1980, ISBN 978-3-16-538521-2, S. 28 (Original erschienen 1922).
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 Michel Foucault: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. In: H. L. Dreyfus & P. Rabinow (Hrsg.): Das Subjekt und die Macht. Athenäum, Frankfurt am Main 1987, ISBN 978-3-610-00732-4, S. 243–261.
  5. 5,0 5,1 5,2 5,3 Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München, Piper 2003, ISBN 978-3-492-20001-1.
  6. 6,0 6,1 6,2 6,3 Dieter Claessens: Rolle und Macht. Juventa, München 1970, ISBN 978-3-7799-0136-5.
  7. 7,0 7,1 7,2 Michaela Glöckler: Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung. Grundlagen einer Erziehung zur Konfliktbewältigung. Johannes Mayer, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-932386-58-9.
  8. 8,0 8,1 Niklas Luhmann: Macht. Enke, Stuttgart 1975, ISBN 978-3-8252-3714-1.
  9. Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Huber, Bern 1963, S. 75.
  10. Hans Werner Bierhoff: Prosoziales Verhalten in der Schule. In: D. H. Rost (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Beltz, Weinheim 1998, S. 410–414.
  11. Eric Dépret, Susan T. Fiske: Social Cognition and Power: Some Cognitive Consequences of Social Structure as a Source of Control Deprivation. In: G. Weary, F. Gleicher & K. Marsh (Hrsg.): Control motivation and social cognition. Springer, New York 1993, S. 176–202, doi:10.1007/978-1-4613-8309-3_7.
  12. Hans Dieter Schneider: Sozialpsychologie der Machtbeziehungen. Enke, Stuttgart 1977.
  13. Robert Dahl: The concept of power. Hrsg.: Behavioral Science. Band 2, 1957, S. 201–215.
  14. Diana Baumrind: Effects of authoritative parental control on child behavior. Hrsg.: Child Development. Nr. 37, 1966, S. 887–907.
  15. Diana Baumrind: Current patterns of parental authority. Hrsg.: Developmental Psychology Monographs. Band 4, Nr. 1, 1971, S. 1–103.
  16. Diana Baumrind: Parenting styles and adolescent development. In: R. Lerner, J. Brooks-Gunn & A. C. Peterson (Hrsg.): Encyclopedia of adolescence. Garland, New York 1991, S. 746–758.
  17. 17,0 17,1 17,2 17,3 17,4 Melanie Misamer: Macht und Machtmittel in der Schule: Eine empirische Untersuchung. Jacobs, Lage, ISBN 978-3-89918-266-8.
  18. 18,0 18,1 Melanie Misamer: Machtsensibilität in der Sozialen Arbeit. Grundwissen für reflektiertes Handeln. Kohlhammer, Stuttgart 2023 (i. E. = im Erscheinen (30. September 2023)).
  19. Michael Argyle: Soziale Beziehungen. In: Wolfgang Stroebe, Miles Hewstone, Jean-Paul Codol und Geofrey Stephenson (Hrsg.): Sozialpsychologie: Eine Einführung. Berlin, Wiesbaden 1990, ISBN 978-3-662-09958-2, S. 232–257.
  20. Bertrand Russell: Macht: Eine sozialkritische Studie. Europa Verlag, Zürich 1947.
  21. 21,0 21,1 21,2 21,3 Wolfgang Scholl: Soziale Interaktion: Ein interdisziplinärer Bezugsrahmen. Hrsg.: Universität Göttingen, Institut für Wirtschafts- und Sozialpsychologie. IWSP Bericht Band 20. Göttingen 1991.
  22. 22,0 22,1 22,2 22,3 22,4 22,5 Wolfgang Scholl: Restrictive control and information pathologies in organizations. Hrsg.: Journal of Social Issues. Band 55, Nr. 1, 1999, S. 101–118.
  23. 23,0 23,1 Keltner, Dacher, Deborah H. Gruenfeld und Cameron Andersen: Power, approach, and inhibition. Hrsg.: Psychological Review [online]. Nr. 110, 2003, ISSN 1939-1471, S. 265–284, doi:10.1037/0033-295x.110.2.265.
  24. 24,0 24,1 Heinz-Dieter Schmalt: Macht. In: Veronika Brandstätter, Jürgen Otto (Hrsg.): Handbuch der allgemeinen Psychologie – Motivation und Emotion. Hogrefe, Göttingen 2009, S. 225–230.
  25. 25,0 25,1 Gerald Marwell, David R. Schmitt: Dimensions of Compliance-Gaining Behavior: An Empirical Analysis. Hrsg.: Sociometry. Band 30, Nr. 4, 1976, S. 350–364, doi:10.2307/2786181.
  26. 26,0 26,1 McClelland, David C.: Opinions predict opinions: So what else is new? Hrsg.: Journal of Consulting and Clinical Psychology. Band 38, Nr. 3, S. 325–326, doi:10.1037/h0032894.
  27. 27,0 27,1 Mauk Mulder: he Daily Power Game. Nijhoff, Leiden 1977.
  28. Anica Maria Plaßmann: Macht und Erziehung – Erziehungsmacht. Über die Machtanwendung in der Erziehung. 2004 (uni-kiel.de [PDF]).
  29. 29,0 29,1 Amitai Etzioni: The active society. A theory of societal and political processes. The Free Press, New York 1968.
  30. Björn Kraus: Macht – Hilfe – Kontrolle. Relationale Grundlegungen und Erweiterungen eines systemisch-konstruktivistischen Machtmodells. In: B. Kraus & W. Krieger (Hrsg.): Macht in der Sozialen Arbeit: Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. Jacobs Verlag, Detmold 2016.
  31. Silvia Staub-Bernasconi: Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft: Systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis – Ein Lehrbuch. UTB, Bern 2007.
  32. 32,0 32,1 P.H. Partridge: Some notes on the concept of power. Hrsg.: Political Studies. Band 11, 1963, S. 107–125, doi:10.1111/j.1467-9248.1963.tb01054.x.
  33. Ulrike Buschmeier: Macht und Einfluß in Organisationen. Cuvillier, Göttingen, ISBN 978-3-89588-023-0.
  34. Erich Witte: Theorien zur sozialen Macht. Universität Hamburg, Fak. für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, FB Psychologie, Arbeitsbereich Sozialpsychologie, Hamburg 2001 (nbn-resolving.org).
  35. 35,0 35,1 35,2 Melanie Misamer, Wolfgang Scholl: Eingeschätzte Machtanwendung in der Kindheitspädagogik. Zur Wichtigkeit von Prinzipienorientierung. Soziale Arbeit. Hrsg.: Soziale Arbeit. Band 5, 2023, ISSN 0490-1606, S. 178–186.
  36. 36,0 36,1 36,2 36,3 Melanie Misamer, Marcel Hackbart, Barbara Thies: Der Umgang mit Macht in der Sozialen Arbeit. Einschätzungen aus der Kinder- und Jugendhilfe. Hrsg.: Soziale Arbeit. Band 5, Nr. 6, ISSN 0490-1606, S. 450–456.
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  44. 44,0 44,1 44,2 44,3 44,4 44,5 44,6 44,7 Melanie Misamer: Materialienbeitrag Machtsensibilität. In: socialnet. 2023, abgerufen am 31. März 2023.
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