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Nicht-normative Ethik

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Die nicht-normative Ethik hat die Ergänzung normativer Ethik und Rechtssysteme um situativ gebotene „nicht-normative Handlungen“ im Sinne eines humanen Anthropozentrismus zum Gegenstand. Sie grenzt sich von der Kasuistik ab.

Systematik und Herkunft des Begriffs[Bearbeiten]

Der Begriff der „nicht-normativen Ethik“ (alternative Schreibweise „nichtnormative Ethik“) resultiert aus einer Reihe von Diskursen. Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass es offenbar ethisch „gute“ und vertretbare Handlungen gibt, die sich einer „normativen“ Fassung entziehen, oder normativ zu verurteilen wären – sie werden von daher als „nicht-normativ“ bezeichnet.

nicht-normative Ethik in der Metaethik bei Richard M. Hare[Bearbeiten]

In seiner Metaethik greift Richard M. Hare in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Aspekt auf, dass die Konsequenzen einer Handlung in der Bewertung derselben bedeutsam sind. Daher können allgemeine Maximen, die normativ und bedingungslos unabhängig von ihren Konsequenzen formuliert wurden, absurd sein. Beispielsweise muss der normativen Ethik, nicht zu stehlen, situativ im Einzelfall – daher nicht-normativ – entgegen gestellt werden, dass es eine gute Handlung sein kann, einem prospektiven Attentäter das Tatwerkzeug präventiv zu entwenden. Daher muss nach Richard M. Hare die spezifische Situation der Handlung in die ethischen Überlegungen einfließen und eine Rolle bei ihrer Bewertung spielen. Die Ethik ist „nicht-normativ“, weil sich – wie im Beispiel – eine normative Vorgabe, wie ein prospektiver Attentäter sicher zu erkennen wäre, nicht erschließt. Das Letztere wäre aber die Bedingung, um einen erlaubten Diebstahl normativ juristisch fassbar zu machen und zu rechtfertigen. Die Bobachtung von Richard M Hare, dass normative Ethik in Absurditäten münden kann, denen man „nicht-normativ“ zu begegnen hat, gilt auch für die normativen Vorgaben technischer Systeme und Automaten. Beispielsweise regelt das technische System „Fußgängerampel“ per Lichtsignal, ob eine Straße überquert werden darf. Eine singuläre Person müsste „normativ korrekt“ auch nachts, wenn es regnet und kalt ist, eine rote Fußgängerampel beachten. Die vom technischen System vorgegebe Verhaltensregel ist aber offenbar absurd, denn für diese spezielle Situation wurde die Ampel offenbar nicht konstruiert. Vernünftigerweise sollte die Person besser „nicht-normativ“ das Ampelsignal ignorieren und ihren Weg fortsetzen – woraus sich keinesfalls kasuistisch eine Regel für das Missachten von Verkehrsregeln ergibt.

Nicht-normative Ethik der Prärogative[Bearbeiten]

Die Prärogative sind die Vorrechte von (absoluten) Herrschern, Monarchen, auch Führungskräften, die ihnen zustehen, oder die sie sich nehmen, ohne dass dies eine explizite gesetzliche „normative“ Grundlage hat. Die prärogativ handelnde Person macht damit deutlich, dass sie über dem Gesetz steht. Da die normative Grundlage fehlt, sind Prärogative nicht-normativer Natur. Das schon vorgeschichtlich wohl bekannteste Prärogativ und von Bedeutung in der Rechtspraxis ist die „Gnade“. Sie ist auch in aktuellen Rechtssystemen bekannt. In modernen Rechtssystemen sind Gnadenbefugnisse und Gnadenerlasse Elemente einer nicht-normativen Ethik. Es kann kein Recht auf Gnade geben – denn mit einem solchen Recht wäre die Gnade wieder eine „normative“ Instanz. Gnade bedeutet, dass die nicht-normative Ausnahme höher gewichtet werden soll als die normative Regel. Das nicht-normative Prärogativ setzt eine souveräne Autorität voraus, die freiwillig, gar willkürlich, in ihren Entscheidungen agiert. Das Prärogativ ist situationsbezogen und kann nicht eingefordert werden kann wie eine vertraglich vereinbarte Leistung – es gibt „kein Recht auf Gnade“. Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten (nach Art. 60 Abs. 2 GG) beruht auf freiem „nicht-normativem“ politischem Ermessen – „das Gnadenverfahren des Bundespräsidenten [ist] nicht normativ ausgestaltet“ – so Stefan Ulrich Pieper im Kommentar zum GG.[1]

Nicht- normative Ethik der Evangelien[Bearbeiten]

In den Evangelien wird eine Diskussion zur Stellung der jesuanischen Ethik zum geltenden „normativen“ Gesetz geschildert.

„Und es geschah, dass er an den Sabbaten entlangging durch die Saaten, und seine Schüler begannen, einen Weg zu machen, rupfend die Ähren. Und die Pharisäer sagten ihm: Sieh, was tun sie an den Sabbaten, was nicht erlaubt ist? […] Und er sagte ihnen: Der Sabbat wurde wegen des Menschen und nicht der Mensch wegen des Sabbats.“

Markus 2. Kapitel, Verse 23 bis 27: MNT

„Meint nicht, dass ich kam, aufzulösen das Gesetz oder die Propheten; nicht kam ich aufzulösen, sondern zu erfüllen. […] Nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vergeht vom Gesetz […] Denn ich sage euch: Wenn nicht überfließt eure Gerechtigkeit mehr als die der Schriftkundigen und Pharisäer, nicht werdet ihr hineingehen ins Königtum der Himmel.“

Matthäus 5. Kapitel, Verse 17 bis 20: MNT

Diese – exemplarischen – Textstellen belegen die bereits von den Zeitgenossen Jesu wahrgenommenen Dichotomie der Ethik, die von Jesus in den ihm zugeschriebenen Parabeln und Episoden als Praktische Philosophie gelehrt wird. Vor der geltenden Norm der Gesetze steht die Exegese der Evangelien vor dem Problem, dass einige der von Jesus geschilderten „guten“ Handlungen offenbar nicht als ein normatives kasuistisches Vorbild taugen. Diesen Aspekt der „nicht-normativen“ Ethik hat Peter Noll 1968 in einer juristischen Analyse der Normenkritik der Lehre Jesu untersucht. Das normative Gesetz kann bei konsequenter Auslegung und Anwendung „den Buchstaben des Gesetzes nach“ menschenverachtende Effekte zeigen. Es wird durch Jesus ergänzt durch eine nicht-normative Anthropozentrik, die exemplarisch Wege aufzeigt, wie ein gescheiterer Mensch wieder rehabilitiert wird. Noll nennt es die „Ersetzung der Normativität“, wenn er Jesus zuschreibt, dass dieser im Sinne seiner Anthropozentrik eine „radikal normenkritische Haltung“ einnimmt, da er die mit den Normen verbundenen Sanktionen als „privilegierend und diskriminierend“ erkannt hat.

In den 1970-er Jahren wurde durch James M. Buchanan das Samariterdilemma aufgezeigt: Die unbedingte Hilfe und permanente Nachfinanzierung für Hilfesuchende hat notwendigerweise den Ruin des Hilfeleistenden zur Folge. Daher kann das aus der Samariter-Parabel (Lukas Kapitel 10) abgeleitete Hilfegebot keine sinnvolle normative Relevanz haben; sie ist nicht-normativer Natur.

Die „nicht-normative Ethik“ in den Evangelien ordnet Ruben Zimmermann von der Universität Mainz so ein:

„[...] die „nicht-normative Ethik“ ist anschlussfähig für aktuelle moralphilosophische und gesellschaftliche Debatten. […] Sie ist Ausdruck einer „fallbasierten Ethik“, die sich als literarische Texte zugleich von der Kasuistik einer Situationsethik unterscheiden und somit eine „mittlerer Reichweite“ einnimmt.“

Ruben Zimmermann: Geleitwort zu den „Impulsen der nicht-normativen Ethik“[2]

Die Betrachtung von Georg Rainer Hofmann zur ökonomischen und sozialen Relevanz der nicht-normativen Ethik kommt 2018 ebenfalls zu dem Schluss, dass sich diese per definitionem einer Normierung entzieht. Das sei das große Dilemma der nicht-normativen Ethik – sie kann nicht Teil eines normativen Systems werden, das das Zusammenleben in der Gesellschaft verbindlich regelt. Es bleibt bei einer Anwendung in der konkreten Situation, wo sie aber für eine menschenwürdige Gesellschaft und Ökonomie von grundlegender Bedeutung ist.

Gnade[Bearbeiten]

In modernen Rechtssystemen sind Gnadenbefugnisse und Gnadenerlasse nicht-normativ und stehen quasi außerhalb der bestehenden sonstigen Rechtslage. Im Rahmen einer Begnadigung werden rechtskräftige Strafen erlassen oder gemildert. Die Begnadigung ist als eine typische Befugnis von Monarchen oder Staatsoberhäuptern ein Attribut der Herrschaft, so auch in Deutschland, wo der Bundespräsident nach Artikel 60 Grundgesetz [3] die Gnadenbefugnis innehat. Es gibt logischerweise kein Recht auf Gnade – denn mit einem solchen Recht wäre die Gnade wieder eine „normative“ Instanz. Gnade erscheint daher unter Umständen als Willkür und kann ohne Angabe von Gründen erwiesen oder verweigert werden. Gegen eine Ablehnung eines Gnadengesuches ist kein Rechtsbehelf möglich.

Aus theologischer Sicht könnte die göttliche Barmherzigkeit als ein „höchstherrliches und allmächtiges“ Begnadigungsrecht verstanden werden.

Kulanz[Bearbeiten]

Unter einer Kulanz versteht man das nicht-normative Entgegenkommen zwischen Vertragspartnern, speziell in Handel, Handwerk und Wirtschaft. Für eine Kulanz besteht keine besondere normative Rechtsgrundlage oder Pflicht. Ein Kulanzfall kann von daher kein Bestandteil von Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Verträgen sein. Die Kulanz ist kein Rechtsbegriff im engeren Sinn.

Um eine Kulanzregelung suchen typischerweise Kunden nach, die gegenüber einem Verkäufer oder Leistungserbringer eine unbillige Härte reklamieren, die dieser mit relativ geringen Kosten vermeiden oder mildern könnte. Wird eine Kulanzregelung abgelehnt, so kann dagegen kein „normativer“ Rechtsweg bestritten werden. Im Online-Handel werden Kulanzfälle in der Regel vermieden, indem man den Kunden umfangreiche Rechte – wie ein Rückgaberecht der erworbenen Ware – normativ von vornherein einräumt.

Jesuanische nicht-normative Ethik[Bearbeiten]

Die Parabeln und biographischen Episoden in den synoptischen Evangelien überliefern fallbasiert Erinnerungen an den historischen Jesus, der als ein Praktischer Philosoph mit der Vermittlung nicht-normativer Ethiken auftritt. Er ergänzt damit das bestehende alte Gesetz, das Gefahr läuft, menschenverachtend zu sein, durch einen nicht-normativen Anthropozentrismus. Die nicht-normative Ethik zeigt Wege auf, wie ein gescheiterer Mensch wieder gerettet und rehabilitiert werden kann. Die nicht-normative Ethik erscheint als fallbasierte Theorie mittlerer Reichweite, sie wird als Synopse über eine Sammlung von Analogien vermittelt und entzieht ihrer Natur nach einer geschlossenen normativen Darstellung.

Beispiele[Bearbeiten]

  • Die Episode von der Ehebrecherin (Johannes 8,1–11 ELB) zeigt die nicht-normative Ethik in der Rettung und Begnadigung der Delinquentin vor der damals normativ und juristisch einwandfreien Steinigung.
  • In der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16 EU) erhalten alle Arbeiter trotz ungleicher Leistung nicht-normativ den gleichen Lohn, um ihre dringend benötigte Tageseinnahme und Lebensunterhalt sicherzustellen.
  • Der Barmherzige Samariter (Lukas 10,25-37 EU) hilft nicht-normativ und situativ, während Priester und Tempeldiener „juristisch korrekt“ ihre rituelle Verunreinigung mit dem halbtoten Überfallenen vermeiden.
  • Im Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lukas 15,11–32 EU) wird der Sohn, der sich mutwillig auf Kosten der Familie ruiniert hat, nicht-normativ rehabilitiert, um ihn vor der völligen Verelendung zu bewahren.
  • Die Episode von der Verleugnung des Petrus (Markus Mk 14,27–31 EU) sieht Petrus nicht-normativ als Ersten der Jünger, obwohl er sich nachdrücklich in der Verleugnung von Jesus distanziert hatte, und tragisch gescheitert ist.

Abgrenzung von der Kasuistik[Bearbeiten]

Eine kasuistische Ethik basiert – wie die nicht-normative Ethik – auf Einzelfällen, zieht diese aber als Präzedenzfälle heran, um die weitere Rechtspraxis zu gestalten. Eine kasuistische Rechtssprechung wird daher bei der Beurteilung eines aktuellen Falles nach vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit suchen und analog urteilen. Die nicht-normative Ethik hingegen gilt nur in der jeweiligen Situation. Sie schafft darüber hinaus keine Präzedenzfälle. Aus der Rehabilitation des Verlorenen Sohnes ist nicht zu schließen, dass das sinnlose Verprassen von ererbtem Vermögen generell gut zu heißen wäre. Aus einem gewährten Straferlass aus Gnade ist nicht zu schließen, dass die entsprechenden Delikte in Zukunft immer straffrei bleiben werden. Um keine Diskussion um Präzendenzfälle zu schaffen, hält daher das Bundespräsidialamt die nicht-normativen Gnadenerlasse des deutschen Bundespräsidenten unter Verschluss.

Literatur[Bearbeiten]

  • James M. Buchanan (1975): „The Samaritan’s Dilemma“, in: Phelps, E S (Hrsg.), „Altruism, Morality and Economic Theory“, pp. 75–85, New York, 1975
  • Georg Rainer Hofmann: Impulse nicht-normativer Ethik für die Ökonomie – Die Evangelien zu Geld und Ruin, zu Versagen und Neubeginn. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2018.
  • Peter Noll (1968): „Jesus und das Gesetz – Rechtliche Analyse der Normenkritik in der Lehre Jesu“, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1968
  • Georg Quaas: Vorlesung zur Moralphilosophie von Richard M. Hare: Ethik als moralisch neutrale Logik moralischen Argumentierens, 2008
  • Ruben Zimmermann (2015) (Hg.): „Kompendium der Gleichnisse Jesu“, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2015

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. BeckOK Grundgesetz/Pieper GG Art. 60 Rn. 18-20.4
  2. Georg Rainer Hofmann: Impulse nicht-normativer Ethik für die Ökonomie – Die Evangelien zu Geld und Ruin, zu Versagen und Neubeginn. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2018.
  3. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 60


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