Selbstentziehung Minderjähriger
Bei der Selbstentziehung Minderjähriger entziehen sich Kinder oder Jugendliche dem tatsächlichen Einfluss des oder der Sorgeberechtigen, also der Eltern oder der Person, der teilweise oder ganz das Sorgerecht gerichtlich übertragen wurde.
Deutschland[Bearbeiten]
Es gibt keine genauen Angaben, wie viele Kinder immer wieder aus Einrichtungen fliehen oder vorübergehend abgängig sind. Das Solinger Tageblatt zitierte 2014 einen Polizeisprecher mit „Heimflucht ist polizeilicher Alltag“.[1]
Die Selbstentziehung ist für den Minderjährigen selbst straflos bezüglich § 235 StGB, unter anderem, weil für den Minderjährigen keine Rechtspflicht besteht, sich für den tatsächlichen Einfluss durch den Sorgerechtigten zur Verfügung zu halten, und sich gegebenenfalls erteilte Strafandrohungen regelmäßig als wirkungslos erwiesen haben.[2]
Hilfeleistungen Dritter[Bearbeiten]
Da die Selbstentziehung für den Minderjährigen selbst straflos ist, ist auch die Person prinzipiell straflos, die einen Minderjährigen zur Selbstentziehung anstiftet oder ihm dabei hilft.[3] Nicht strafbar ist die bloße Gewährung von Unterkunft oder Verpflegung bei ansonsten rein passivem Verhalten.[4][5][6][7][8]
Strafbar ist aber die Entziehung Minderjähriger durch Unterlassen, zum Beispiel durch Verschweigen des Aufenthaltsorts des Minderjährigen durch einen Auskunfts- und somit Garantenpflichtigen.[4]
Eine strafbare Handlung entsteht ferner durch das Vorenthalten im Sinne des § 1632 Abs. 1 BGB zum Beispiel durch die Verweigerung der Herausgabe des Minderjährigen oder ihre Erschwerung der Herausgabe durch Verschweigen seines Aufenthaltsortes durch einen nicht Garantenpflichtigen.[4]
Ein weiterer strafbarer Bereich nach § 232 StGB (Menschenhandel) entsteht, wenn der Minderjährige dem Sorgeberechtigten durch Anwendung von Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List vorenthalten oder entzogen wird.
Angela M., die dem zwölfjährigen Jungen Dave M., der im Juni 2015 aus einer Einrichtung in Wittmund verschwunden war, für drei Wochen Unterkunft gewährt hatte, wurde am Amtsgericht Wittmund im August 2017 zu sechs Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt; sie hatte versucht, sein Verhalten zu beeinflussen. Der Mitangeklagte Jo C., der als Kontaktmann fungiert hatte, wurde zu 70 Tagessätzen à 60 Euro verurteilt.[9]
Am Amtsgericht Neustadt wurde Christian W. aus Lambrecht am 18. Februar 2016 zu 50 Tagessätzen à 25 Euro verurteilt, weil er im Sommer 2014 einem 14-jährigen Jungen Obhut gegeben hatte, der aus dem Silzer Jugenddorf entlaufen war.[10]
Österreich[Bearbeiten]
Etwa 75 % aller in Österreich als vermisst Gemeldeten sind Minderjährige, die sich ohne Erlaubnis aus Betreuungseinrichtungen entfernen. Sie tauchen zumeist nach wenigen Tagen wieder auf oder werden gefunden. Häufig waren sie bereits mehr als dreimal abgängig, einige von ihnen bis zu 50 Mal und öfter.[11]
Hält sich ein Kind oder Jugendlicher woanders auf, als die Obsorgeberechtigten festgelegt haben, so haben nach § 162 ABGB „die Behörden und Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes auf Ersuchen eines berechtigten Elternteils bei der Ermittlung des Aufenthalts, notfalls auch bei der Zurückholung des Kindes mitzuwirken.“
Hilfeleistungen Dritter[Bearbeiten]
Der Oberste Gerichtshof entschied 1987 (OGH, Entscheidung vom 12. August 1987, Az. 14 Os 104/87) in einem Fall der Gewährung von Unterkunft: „Mag auch eine Hilfeleistung zur Selbstentziehung einer minderjährigen Person im Hinblick darauf, daß die Entziehung aus einer Erziehungsmaßnahme solange währt, bis der Zweck der Erziehungsmaßnahme vereitelt ist, auch durch Unterkunftsgewährung nach einer Entweichung der minderjährigen Person begangen werden können, so hat doch für den Fall, daß sich die entwichene (minderjährige) Person aus eigenem Entschluß zu einem Dritten begeben hat und ohne psychische Beeinflussung durch ihn nicht rückkehrwillig ist, sich vielmehr nur auf der Straße herumtreiben würde (und unter keinen Umständen in das Erziehungsheim zurückgekehrt wäre), dieser nicht aktiv zur Schaffung oder Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes beigetragen.“[12]
Schweiz[Bearbeiten]
Am 26. September 1971 entwichen 17 jugendliche Zöglinge der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon, nachdem sie von Angehörigen der „Heimkampagne“ aufgesucht worden waren. Ein Helfer beschaffte Unterkunft und Transport; er wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.[13]
Siehe auch[Bearbeiten]
Weblinks[Bearbeiten]
- Michael Langhans: Entziehung Minderjähriger. 7. Juni 2019
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Polizei: „Heimflucht ist Alltag“. In: Solinger Tageblatt, 19. September 2014
- ↑ Reinhart Maurach, Friedrich-Christian Schroeder, Manfred Maiwald: Strafrecht: Besonderer Teil. Straftaten gegen Gemeinschaftswerte. C.F. Müller GmbH, 2005, Seite 177
- ↑ § 235. In: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar. 12. Auflage, Siebenter Band, zweiter Teilband. De Gruyter, 2010
- ↑ 4,0 4,1 4,2 Valerius: § 235. In: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.): Beck'scher Online-Kommentar.
- ↑ Bundestags-Drucksache 13/8587, 38
- ↑ § 235 StGB Rn 6. In: Eckhard Horn, Jürgen Wolter: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (SK-StGB).
- ↑ § 235 StGB Rn 3. In: Karl Lackner, Kristian Kühl: Strafgesetzbuch: StGB.
- ↑ § 235 StGB Rn 7. In: Thomas Fischer: Strafgesetzbuch: StGB mit Nebengesetzen.
- ↑ Urteil Im Fall Dave M.: Frau aus Weyhe muss wegen Kindesentziehung in Haft. In: Nordwestzeitung, 17. August 2017
- ↑ Der „Fall Kuwalewsky“ aus Lambrecht schlägt erneut hohe Wellen. In: Nachrichten regional, 27. Februar 2016
- ↑ 13 Minderjährige in Salzburg abgängig. In: salzburg24.de, 24. Mai 2019
- ↑ OGH, Entscheidung vom 12. August 1987, Az. 14 Os 104/87
- ↑ Bundesgericht: 62. Urteil des Kassationshofes vom 21. Dezember 1973 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
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