Ansprache an den Europarat 2014 (Papst Franziskus)
Die erste Ansprache zum Thema „Europa“ hielt Papst Franziskus am 25. November 2014 vor dem Europarat in Straßburg im Rahmen des 65. Jahrestages der Gründung. Der Papst folgte damit einer Einladung des Generalsekretärs Thorbjørn Jagland.[1]
Es war die erste Ansprache des Oberhauptes der römisch-katholischen Kirche vor dem Europarat [2] und wird als eine der großen Europa-Reden von Franziskus bezeichnet.[3][4]
Sie beschäftigt sich vor allem mit der Vergangenheit und den Wurzeln Europas, die zusammen mit dessen multipolarer und transversaler Verfassung für die Herausforderungen der Zukunft fruchtbar gemacht werden müssen, und kann wie folgt zusammengefasst werden:
Einleitung[Bearbeiten]
„Um das Gut des Friedens zu gewinnen, muss man vor allem zum Frieden erziehen,
indem man eine Kultur des Konfliktes fernhält, die auf die Angst vor dem anderen,
auf die Ausgrenzung dessen, der anders denkt oder lebt, ausgerichtet ist.“
Zu Beginn seiner Ansprache weist Papst Franziskus darauf hin, dass im Europarat ganz Europa, mit all seinen unterschiedlichen Kulturen, Ausprägungen und religiösen Ausdrucksformen, vertreten ist. Diese Diversität stellt einen schützenswerten Reichtum des Kontinents dar. In Europa gab es immer wieder geistige Einheitsbestrebungen, doch wurden diese meist Opfer von partikularistischen Impulsen. Aufgabe und Mission des Europarats ist es, den Frieden, die Freiheit und die Menschenwürde zu fördern, und zwar durch eine Einheit im Sinne eines gegenseitigen Dienstes. Dieser Aufgabe kommt der Europarat nach durch sein Bemühen um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, allesamt Faktoren, die unerlässlich sind für den Frieden.
Der Frieden ist jedoch ein Gut, das in einem stetigen Prozess immer von Neuem gesucht und errungen werden muss. Dabei stehen diesem Bemühen viele Gefahren entgegen. Als Beispiele nennt der Papst den religiös motivierten und internationalen Terrorismus und den Waffenhandel, der eng mit dem Menschenhandel verknüpft ist. In die Konflikte, die den Frieden bedrohen, darf sich der Mensch nicht verstricken lassen. Es ist vielmehr notwendig, dass er sich ihnen stellt und sie bekämpft. Bei allem Ringen um den Frieden darf nicht vergessen werden, dass der Friede „zugleich Geschenk Gottes und Frucht des freien und vernünftigen Handelns des Menschen“ ist, „der in Wahrheit und Liebe das Gemeinwohl im Auge hat“.
Hauptteil[Bearbeiten]
„Um der Zukunft entgegenzugehen, bedarf es der Vergangenheit, braucht es tiefe Wurzeln
und bedarf es auch des Mutes, sich nicht vor der Gegenwart und ihren Herausforderungen zu verstecken.
Es braucht Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision.“
Die Pflege der Werte Europas war und ist ein bedeutender Beitrag für Frieden und Kultur, den der Kontinent der ganzen Welt beisteuert. Diese Werte bedürfen jedoch einer Basis der Wahrheit, in der sie verwurzelt sind. Franziskus vergleicht Europa mit einem Baum, der ohne seine Wurzeln nicht bestehen kann. So kann auch Europa nicht losgelöst von der Wahrheit und seiner Vergangenheit bestehen. Auf dieser Basis der Wahrheit kann sich letztlich ein Gewissen entwickeln, das ein Ort der verantwortlichen Freiheit wird.
Ohne diese Wahrheit als Grundlage gewinnen andere Einflüsse, wie Subjektivismus, Individualismus, der die anderen vergisst, und letztlich Egoismus die Oberhand. Eine Folge davon ist Gleichgültigkeit ebenso wie die Wegwerfkultur und die Unfähigkeit, authentische menschliche Beziehungen aufzubauen – Erscheinungen, die immer mehr um sich greifen.
„Europa muss darüber nachdenken, ob sein gewaltiges Erbe auf menschlichem, künstlerischem, technischem,
sozialem, politischem, wirtschaftlichem und religiösem Gebiet ein bloßes museales Vermächtnis der Vergangenheit ist
oder ob es noch imstande ist, die Kultur zu inspirieren und seine Schätze der gesamten Menschheit zu erschließen.“
Europa muss sein vielschichtiges und gewaltiges Erbe nutzen und fruchtbar machen. Dieses Erbe darf nicht als museales Vermächtnis betrachtet werden, das heute keine Relevanz mehr besitzt. Die Schätze der Vergangenheit müssen erschlossen werden, damit sie der ganzen Menschheit zugänglich sind. Wenn die Wurzeln Europas auf diese Weise gepflegt werden, können sie für aktuelle Probleme fruchtbar gemacht werden.
Dem Europarat und den mit ihm verbundenen Institutionen spricht der Papst eine große Bedeutung beim Bewahren des europäischen Erbes zu. Ebenso hebt er die Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, dem er die Funktion eines Gewissens für Europa zuschreibt.
„Europa ist heute multipolar in seinen Beziehungen und seinen Bestrebungen;
Europa ist weder denkbar noch konstruierbar, ohne diese multipolare Wirklichkeit von Grund auf anzunehmen.“
Von den vielen aktuellen Herausforderungen, denen sich Europa stellen muss, greift der Papst zwei heraus, die Multipolarität und die Transversalität.
Die überkommenen Bilder eines bi- oder tripolaren Europas müssen fallengelassen werden, denn der Kontinent muss sich als multipolar begreifen. Die Spannungen innerhalb Europas treten zwischen vielfältigen Polen auf, die dem Bereich der Religion, der Politik und der Kultur zuzurechnen sind. Diese Multipolarität Europas darf nicht zugunsten der Vormachtstellung Einzelner beschädigt werden, sondern soll zu einem Dialog der verschiedenen Pole führen. So muss es das Ziel sein, dass diese Multipolarität im Bemühen um konstruktive Harmonie auf ursprüngliche Weise globalisiert wird.
Neben dem Dialog im Rahmen der Multipolarität ist auch der Dialog zwischen den Generationen von großer Bedeutung. Dieser transversale Dialog muss auch beinhalten, über die Grenzen der eigenen Institutionen und Gruppen hinauszugehen und im Bewusstsein der Geschichte auf andere zuzugehen. Mittels eines solchen Dialogs kann eine wechselseitige Bereicherung von Religion und Gesellschaft sowie von Glaube und Vernunft erreicht werden. Der Papst hebt hier die Wichtigkeit der Zusammenarbeit der katholischen Kirche, insbesondere des Rats der Europäischen Bischofskonferenzen, mit dem Europarat hervor.
Als vorrangige Herausforderungen, die im Geiste eines solchen Dialogs behandelt werden müssen, benennt der Papst die ethischen Fragen, die mit dem menschlichen Leben in Verbindung stehen. Besonders bei der Beantwortung dieser Fragen muss „die Wahrheit des ganzen Menschen“ berücksichtigt werden, ohne sich auf einzelne Wissenschaften zu beschränken. Als weitere Probleme führt er die Aufnahme der Migranten an, die vor allem in ihrer Menschenwürde anerkannt werden müssen, und die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die in zahlreichen Ländern um sich greift.
Schluss und Handlungsaufforderung[Bearbeiten]
„Mein Wunsch ist, dass Europa mit der Wiederentdeckung seines historischen Erbes und der Tiefe seiner Wurzeln
sowie mit der Annahme seiner lebendigen Multipolarität und des Phänomens der dialogisierenden Transversalität
jene geistige Jugend wiederfindet, die es fruchtbar und bedeutend gemacht hat.“
Am Ende seiner Ansprache betont der Papst die Notwendigkeit einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit, die durch Solidarität und Nächstenliebe geprägt ist und frei ist von ideologischen Bedingtheiten. Vor allem ist bei den sozialen und wirtschaftlichen Aspekten der Zusammenarbeit auf die Armen zu achten und auf den Schutz der Erde und unserer Umwelt. Denn in der Umwelt stellt uns Gott durch seine Schöpfung den Reichtum vor Augen, der uns zur Verfügung steht. Daher ist ein verantwortungsvoller Umgang damit unerlässlich.
Die Aufgabe der Kirche ist es, zu dienen und für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Eingedenk dieser Aufgabe soll die Zusammenarbeit zwischen der katholischen Kirche und dem Europarat fortgesetzt werden, um eine Art „neuer Agora“ herbeizuführen, in der alle Institutionen, ob politisch oder religiös, ihren Platz finden und sich gegenübertreten können, im Dienste des Gemeinwohls und der Wahrheit. Dies kann erreicht werden, wenn Europa sich seiner Wurzeln und seines Erbes erinnert und seine ihm eigene Multipolarität und Transversalität akzeptiert und wirksam werden lässt.
Rezeption[Bearbeiten]
Während des Besuches des Papstes in der griechischen Hauptstadt Athen wurde über die Solidarität innerhalb Europas gesprochen und dies in den Zusammenhang gestellt, dass Franziskus sich für Solidarität und Respekt innerhalb Europas seit seiner Rede im Europaparlament einsetze und diese anspreche.[5]
Im Zusammenhang mit Forderungen zu einem Beitritt des Heiligen Stuhls zum Europarat werden die lobenden, aber auch die kritisierenden Worte Franziskus auf den jeweiligen Seiten der Diskussion zur Argumentation herangezogen.[6]
Die Rede wird analysiert im Rahmen der Frage nach einer neuen europäischen Identität herangezogen als möglicher Quell eines Impulses als eine der großen Europa-Reden von Franziskus.[7] [8]
Literaturempfehlungen[Bearbeiten]
- Homeyer, Josef: Was trägt uns in Europa? Die Kirche und ihre Verantwortung, München 2004.
- Hünermann, Peter: Das neue Europa. Herausforderungen für Kirche und Theologie, Freiburg 1993.
- Kirschner, Martin; Ruhstorfer, Karlheinz: Die gegenwärtige Krise Europas. Theologische Antwortversuche, Freiburg 2018.
- Losansky, Sylvia: Öffentliche Kirche für Europa. Eine Studie zum Beitrag der christlichen Kirchen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa, Leipzig 2010.
- Müller, Joseph: Die Kirche und die Einigung Europas. Dokumentierte Darlegung, Saarbrücken 1955.
- Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Ecclesia in Europa“ von Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe und Priester, an die Personen gottgeweihten Lebens und an alle Gläubigen zum Thema „Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – Quelle der Hoffnung für Europa“, Rom 28. Juni 2003.
- Opyd, Edyta: Der Dialog zwischen Glaube und Kultur und dessen Implikationen für das Gespräch über die christlichen Wurzeln Europas in den Texten Johannes Paul II. und Benedikt XVI., Passau 2011.
- Schwarz, Jürgen: Katholische Kirche und Europa. Dokumente 1945–1979, München 1980.
- Derselbe: Die katholische Kirche und das neue Europa. Dokumente 1980–1995, Band 1 und 2, Mainz 1996.
- Sedmak, Clemens: Die Seele Europas. Papst Benedikt XVI. und die europäische Identität, Regensburg 2011.
Weblinks[Bearbeiten]
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Besuch und Ansprache von Papst Franziskus im Europarat. Europarat, 25. November 2014, abgerufen am 28. Februar 2022.
- ↑ Josef Neumann nimmt am Papstbesuch in Straßburg teil – Franziskus I. spricht vor Europarat. Website des Abgeordneten Josef Neumann, abgerufen am 28. Februar 2022.
- ↑ Alexandra Lason: Umstrittenes Abendland: Eine theologische Grundlagenreflexion. 2021, ISBN 978-3-643-14650-2, S. 18.
- ↑ Kerstin Schlögerl-Fierl: Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik. Hrsg.: Alexander Merkl, Bernhard Koch. Nomos, 2018, ISBN 978-3-8487-4861-7, S. 107.
- ↑ Papst: Wieder Migranten am Rande Europas im Blick. In: dw.com. Deutsche Welle, 2. Dezember 2021, abgerufen am 28. Februar 2022.
- ↑ Felix Neumann: Die Kirche und die Menschenrechte – eine holprige Annäherung. katholisch.de, 10. Dezember 2021, abgerufen am 28. Februar 2022.
- ↑ Kerstin Schlögerl-Fierl: Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik. Hrsg.: Bernhard Koch. Nomos, 2018, ISBN 978-3-8487-4861-7, S. 107.
- ↑ Alexandra Lason: Umstrittenes Abendland: Eine theologische Grundlagenreflexion. 2021, ISBN 978-3-643-14650-2, S. 18.
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