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Differenzielles Lernen

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Differenzielles Lernen (auch „Differenzielles Lernen und Lehren“ bzw. „Differenzielles Lehren und Lernen“)[1] ist ein bewegungswissenschaftlicher Lernansatz, den der Sportwissenschaftler Wolfgang Schöllhorn (damals Münster, heute Mainz) 1999 erstmals zur Diskussion stellte. Bei diesem Ansatz wird die modellhafte Vorstellung motorischer Programme zur Bewegungssteuerung zugunsten einer systemdynamischen Auffassung der Entwicklung von Bewegungsfertigkeiten aufgegeben.[2]

Grundlegend für das Differenzielle Lernen ist die Variation der Bewegungen im weiteren Umkreis von Bewegungsidealen. Hierbei kommt es insbesondere zu einer Neubewertung von Bewegungsfehlern. Diese Fehler, die im traditionellen Training zu vermeiden sind, werden bewusst in den Trainingsprozess integriert.[3] Das folgt Erkenntnissen, nach denen sich Bewegungen sowohl von Situation zu Situation als auch von Person zu Person deutlich unterscheiden.[4]

Theorie[Bearbeiten]

Grundannahmen[Bearbeiten]

Der differenzielle Lernansatz stützt sich auf zwei Grundannahmen:

  1. Bewegungen unterliegen ständigen Schwankungen und können nicht wiederholt werden.
  2. Bewegungen sind in hohem Maße individuell.

Die identische Wiederholung einer Bewegung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich. Das führt im Differenziellen Lernen zu einer Neubewertung von Bewegungsfehlern: Wenn ein Bewegen ohne Fehler nicht möglich ist, ist umgekehrt auch das Vermeiden von Bewegungsfehlern nicht möglich. Anders als in den traditionellen Trainingsansätzen ist beim Differenziellen Lernen daher nicht von „Fehlern“ die Rede, sondern von „Schwankungen“ oder „Fluktuationen“. Schwankungen in der Bewegungsausführung werden als notwendig für den Lernprozess angesehen und gezielt im Lernprozess eingesetzt.

Aus der Annahme, dass auch das individuelle Bewegungsideal ständig variiert, folgt ein trainingsmethodisches Problem der klassischen Trainingsansätze: Bei sich fortwährend verändernden Zielen ist es wenig effizient, einen Sollwert zu etablieren. Insofern stellt die Theorie ein personenunabhängiges Bewegungsideal bzw. allgemeines Technikleitbild in Frage.[5]

Trainingskonzept[Bearbeiten]

Während des Trainingsprozesses werden gezielt Unterschiede („Differenzen“) zwischen den Ausführungsversuchen durch die ständige Veränderung der Bewegungsaufgaben und der Umgebungsbedingungen erzeugt. Idealerweise erfolgt die Veränderung bei jeder Bewegungsausführung.[6] Das zwingt den Körper, sich variabel an neue Situationen anzupassen, mit der Folge einer verstärkten Reaktion des zentralen Nervensystems.

Begründungen[Bearbeiten]

Die Theorie liefert zwei Begründungen für die Wirksamkeit des Konzepts.

Die Bewegungsausführung wird relativ weit um eine angenommene allgemeine Zieltechnik herum variiert. Daraus ergibt sich für die Person die Möglichkeit, einen Lösungsbereich aufzuspannen und innerhalb dieses Lösungsbereichs die gerade benötigte optimale Technik zu „interpolieren“, spontan einen passenden Zwischenwert zwischen den bekannten Werten zu wählen. Da diese Technik sich ständig verändert, bietet der größere Lösungsraum auch eine größere statistische Chance, die Lösung zu finden. Bei der Anwendung in größeren Gruppen ergibt sich der Vorteil, die individuellen Bewegungsideale jedes Gruppenmitglieds anzusprechen.[7] Die angenommene allgemeine Zieltechnik ist der Bereich der Lösungen, der – biomechanisch betrachtet – optimale Leistungen ermöglicht. So ist etwa das rückwärtige Anlaufen beim Weitsprung nicht geeignet, um eine maximale Absprunggeschwindigkeit zu erreichen.

Die Differenzen zwischen zwei Bewegungsausführungen wirken als Rauschen auf den Körper.[8] Erkenntnisse aus dem Bereich der Stochastischen Resonanz belegen, dass Rauschen u. a. in biologischen Systemen zu einer Verstärkung bzw. zu einem Sichtbarwerden unterschwelliger Signale führen kann.

Praxis[Bearbeiten]

Wirksamkeit[Bearbeiten]

In Untersuchungen zum Differenziellen Lernen wurde mehrfach nachgewiesen, dass eine Verstärkung des Rauschens in Form von häufigen Variationen der Bewegungsausführung zu einer Verbesserung der Leistung führen kann.[9] Bei den Untersuchungen wurde im Wesentlichen die Wirksamkeit des Differenziellen Lernens mit der Wirksamkeit traditioneller, von methodischen Übungsreihen bestimmter Ansätze verglichen.

Im Bereich der Sportspielarten (Basketball, Fußball und Volleyball), der Leichtathletik und im Krafttraining konnten Leistungssteigerungen erreicht werden, die sowohl in sich als auch im Vergleich zu den jeweiligen klassischen Ansätzen signifikant waren. Diese Leistungssteigerungen wurden darüber hinaus in unterschiedlichen Leistungsbereichen und unabhängig vom Ausgangsniveau der untersuchten Sportlerinnen und Sportler beobachtet. Charakteristisch ist das Ergebnis einer Studie, bei der in der differenziell trainierten Versuchsgruppe eine Verbesserung der Kugelstoßleistung auch nach einer Trainingspause ohne zusätzliche Trainingsintervention zu beobachten war – die klassisch trainierte Gruppe fiel auf das anfängliche Leistungsniveau zurück.[10]

Vorteile gegenüber traditionellen Methoden[Bearbeiten]

Das Differenzielle Lernen und Lehren ist nach den vorliegenden Forschungsergebnissen u. a. besonders zur Bewältigung größerer Trainingsgruppen geeignet. Weitere Vorteile sind im Bereich der Motivation der Sportler (Abwechslung vom traditionellen „Drill and Practice“) sowie einer erhöhten Effizienz (weniger Trainingsumfang bei gleicher Leistung im Vergleich mit traditionellen Verfahren) zu erkennen.

Rezeption[Bearbeiten]

Wissenschaftlichkeit[Bearbeiten]

In einem kritischen Artikel der Sportwissenschaftler Stefan Künzell (Augsburg) und Ernst-Joachim Hossner (Bern) von 2012 wird bemängelt, dass die behaupteten Praxiskonsequenzen theoretisch nicht fundiert seien, dass die Abgrenzung zu konkurrierenden Lerntheorien lücken- und fehlerhaft ausfalle, dass die präsentierte empirische Befundlage auf wackeligen Füßen stehe und dass der Ansatz sich auch aus Praxissicht als nicht tragfähig erweise.[11] Die Sportwissenschaftler Marcus Schmidt und Markus Hennig (Dortmund), wiewohl „keine uneingeschränkten Anhänger“ des Differenziellen Lernens, weisen diese Ausführungen zurück und finden es „verwunderlich, wie ein derartig unsachlicher/subjektiver Artikel der Überprüfung wissenschaftlicher Kriterien standhalten und in einem sportwissenschaftlichen Journal veröffentlicht werden konnte“.[12] Der Sportwissenschaftler Klaus Willimczik (Darmstadt) erinnert an die „Berufsethischen Grundsätze für Sportwissenschaftler/innen“ und ergänzt: „Weitgehend schließe ich persönlich mich den Aussagen von M. Schmidt und M. Hennig (…) an.“[13]

Variabilität[Bearbeiten]

Eine umfangreiche Arbeit des Sportwissenschaftlers Jürgen Birklbauer (Salzburg) von 2019 widmet sich der „Optimalen Variabilität für effektives Bewegungslernen“ und nimmt vor allem das Kontext-Interferenz-Lernen und das Differenzielle Lernen in den Blick. Birklbauer hält fest, das Kontext-Interferenz-Lernen berufe sich in der Regel auf die sogenannte Schematheorie nach Richard A. Schmidt und schreibe dessen Variability-of-Practice-Hypothese weiter. Allerdings könne das variable Üben nach Schmidt auch als „kleine Teilmenge“ des differenziellen Trainings nach Schöllhorn begriffen werden.[14] In einer empirischen Studie vergleicht Birklbauer drei variabilitätsorientierte Optionen des Hallenhockey-Trainings miteinander, Nr. 1 auf dem Kontext-Interferenz-Lernen, Nr. 2 und 3 auf dem Differenziellen Lernen basierend, und weist für alle drei Konzepte eine „statistisch signifikante und substanzielle“ Wirksamkeit nach – mit leichten Vorteilen für Nr. 1. Birklbauer resümiert, zwar lasse das Studiendesign zahlreiche Fragen offen, weswegen noch keine verlässlichen Hinweise zur optimalen Ausgestaltung eines Trainings möglich seien; jedoch lasse sich Variabilität „mit gutem Gewissen“ als „Schlüsselbedingung des motorischen Lernens“ beschreiben.[15]

Auf anderen Gebieten[Bearbeiten]

Seit 2007 wird das Differenzielle Lernen auch auf dem Gebiet der Musik rezipiert.[16]

Auszeichnungen[Bearbeiten]

  • 1999 wurden grundlegende Forschungen zum Differenziellen Lernen mit dem ISB-Myashita-Award in Calgary ausgezeichnet.
  • 2006 wurde die Forschungstätigkeit zum Differenziellen Lernen vom Deutschen Werkbund mit dem Werkbund Label ausgezeichnet.[17]

Literatur[Bearbeiten]

  • Wolfgang Schöllhorn: Individualität – ein vernachlässigter Parameter? In: Leistungssport. Nr. 02/1999, ISSN 0341-7387, S. 7–11.
  • Wolfgang Schöllhorn: Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung. In: Hartmut Gabler, Ulrich Göhner und Frank Schiebl (Hrsg.): Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft. Czwalina, Hamburg 2005, ISBN 3-88020-441-1, S. 125–135.
  • Jürgen Birklbauer: Modelle der Motorik. Meyer & Meyer, Aachen 2006, ISBN 3-89899-106-7.
  • Wolfgang Schöllhorn, Patrick Hegen und Keith Davids: The Nonlinear Nature of Learning – A Differential Learning Approach. In: The Open Sports Sciences Journal. Nr. 09/2012, ISSN 1875-399X, S. 100–112.
  • Martin Widmaier: Zur Systemdynamik des Übens. Differenzielles Lernen am Klavier. Schott, Mainz 2016, ISBN 978-3-7957-0951-8.
  • Wolfgang Schöllhorn, Diana Henz und Fabian Horst: Differenzielles Lernen als Turbo für Körper und Gehirn. Teil 1: Eine Zwischenbilanz. In: Leistungssport. Nr. 01/2017, ISSN 0341-7387, S. 19–24.
  • Wolfgang Schöllhorn, Diana Henz und Fabian Horst: Differenzielles Lernen als Turbo für Körper und Gehirn. Teil 2: Gehirnzustände bei verschiedenen Trainings-/Lernmethoden. In: Leistungssport. Nr. 02/2017, ISSN 0341-7387, S. 44–47.
  • Jürgen Birklbauer: Optimal Variability for Effective Motor Learning. A Theoretical Review and Empirical Work on Movement Variability. Meyer & Meyer, Aachen 2019, ISBN 978-3-8403-7651-1.

Weblinks[Bearbeiten]

  • Übersicht zu forschungsrelevanter Literatur auf www.sport.uni-mainz.de

Einzelnachweise[Bearbeiten]

  1. Die drei Bezeichnungen finden nebeneinander Verwendung. So trägt Wolfgang Schöllhorns Handbuch Eine Sprint- und Laufschule für alle Sportarten (Meyer & Meyer 2003) den Reihentitel „Differenzielles Lernen“. Die Publikationsliste auf den Internetseiten des Instituts für Sportwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ist „Differenzielles Lernen und Lehren“ überschrieben (siehe Weblinks). Ein programmatischer Artikel von 2005 heißt dagegen „Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung“ (siehe Literatur).
  2. Jürgen Birklbauer: Modelle der Motorik. Meyer & Meyer, Aachen 2006, S. 418.
  3. Wolfgang Schöllhorn: Individualität – ein vernachlässigter Parameter? In: Leistungssport 02/1999, S. 5–12, hier: S. 10.
  4. Wolfgang Schöllhorn: Individualität – ein vernachlässigter Parameter? In: Leistungssport 02/1999, S. 5–12, hier: S. 9.
  5. Jürgen Birklbauer: Modelle der Motorik. Meyer & Meyer, Aachen 2006, S. 413.
  6. Wolfgang Schöllhorn: "Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung". In: Hartmut Gabler, Ulrich Göhner und Frank Schiebl (Hrsg.): "Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft". Czwalina, Hamburg 2005, S. 125–135, hier: S. 129.
  7. Wolfgang Schöllhorn: "Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung". In: Hartmut Gabler, Ulrich Göhner und Frank Schiebl (Hrsg.): "Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft". Czwalina, Hamburg 2005, S. 125–135, hier: S. 133.
  8. Wolfgang Schöllhorn: "Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung". In: Hartmut Gabler, Ulrich Göhner und Frank Schiebl (Hrsg.): "Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft". Czwalina, Hamburg 2005, S. 125–135, hier: S. 132.
  9. Jürgen Birklbauer: "Optimal Variability for Effective Motor Learning. A Theoretical Review and Empirical Work on Movement Variability". Meyer & Meyer, Aachen 2019, S. 465.
  10. Hendrik Beckmann, Wolfgang Schöllhorn: Differenzielles Kugelstoßtraining. In: Jürgen Krug und Thomas Müller (Hrsg.): Messplätze. Messplatztraining. Motorisches Lernen. Academia 2003, S. 108–112, PDF-Datei auf sport.uni-mainz.de (Zugriff 16. Juli 2014).
  11. Stefan Künzell, Ernst-Joachim Hossner: Differenzielles Lehren und Lernen: eine Kritik. In: Sportwissenschaft 02/2012, S. 83–95, online auf www.springerlink.com (Zugriff am 8. Juni 2020).
  12. Marcus Schmidt, Markus Hennig: Differenzielles Lernen. In: Sportwissenschaft 04/2012, S. 286/287, online auf www.researchgate.net (Zugriff am 8. Juni 2020).
  13. Klaus Willimczik: ‚Der Wissenschaftler, der von Wahrheit spricht, ist ein Lügner‘. Anmerkungen zur Diskussionskultur in der Sportwissenschaft. In: Sportwissenschaft 01/2013, S. 58–60, online auf www.springerlink.com (Zugriff am 8. Juni 2020).
  14. Jürgen Birklbauer: Optimal Variability for Effective Motor Learning. A Theoretical Review and Empirical Work on Movement Variability. Meyer & Meyer, Aachen 2019, S. 15/16.
  15. Jürgen Birklbauer: Optimal Variability for Effective Motor Learning. A Theoretical Review and Empirical Work on Movement Variability. Meyer & Meyer, Aachen 2019, S. 503/504 und 510.
  16. Martin Widmaier: Differenzielles Lernen. Sachgemäßes Üben im Randbereich des Lösungsraums. In: Üben & Musizieren 03/2007, S. 48–51. Thomas Kabisch: Hans Kellers Functional Analysis und die Voraussetzungen des differentiellen Hörens. In: Musik & Ästhetik, 01/2009, S. 72–86, PDF-Datei auf sport.uni-mainz.de (Zugriff am 16. Juli 2014). Stefan Albrecht: Von Sportlern lernen. Differenzielles Lernen – Impulse für die Musikpädagogik. In: Üben & Musizieren 05/2009, S. 51–53. Wolfgang Lessing: Üben als Handeln. In: Wilfried Gruhn und Peter Röbke (Hrsg.): Musiklernen. Bedingungen – Handlungsfelder – Positionen. Helbling, Innsbruck 2018, S. 70–93. Hinzu kommen Hinweise auf das Differenzielle Lernen in Überblicksartikeln wie Eckart Altenmüller: Hirnphysiologie des musikalischen Lernens. In: Wilfried Gruhn und Peter Röbke (Hrsg.): Musiklernen. Bedingungen – Handlungsfelder – Positionen. Helbling, Innsbruck 2018, S. 43–69, hier: S.65/66.
  17. Deutscher Werkbund – Preisbegründung (Memento vom 23. September 2015 im Internet Archive)


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