Neuropsychotherapie
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Neuropsychotherapie befasst sich mit der Anwendung der Erkenntnisse der Neurowissenschaften (Neurobiologie, Neuropsychologie und Gehirnforschung) auf die Psychotherapie unter Einbeziehung der empirischen Ergebnisse der Psychotherapieforschung. Diese erzielten in den letzten Jahren große Fortschritte über die neurobiologischen Vorgänge und Umstrukturierungsprozesse im Gehirn, die den menschlichen Lern- und Entwicklungsprozessen zugrunde liegen. Die grundlegendste Einsicht war die enorme Fähigkeit des Gehirns, sich lebenslang zu verändern (neuronale Plastizität des Gehirns) als Folge menschlichen Erlebens und Verhaltens. Daraus wird rückschließend auch therapeutischen Interventionen der Effekt zugesprochen, im Gehirn ablaufende neurobiologische Prozesse und Strukturen zu verändern. Damit erscheint es möglich, Erkenntnisse über störungsspezifische negative Hirnveränderungen zu gewinnen, diese diagnostisch zu nutzen und daraus wirksame therapeutische Interventionen zu entwickeln und in der Therapie zu berücksichtigen. Hierbei ergibt sich als entscheidende Frage, durch welches Therapeutenverhalten die neuronalen Bedingungen geschaffen werden, die dauerhafte therapeutische Veränderungen ermöglichen.
Bei der Untersuchung dieser Frage und der Integration von Erkenntnissen unterschiedlicher Forschungsbereiche kommt dem Berner Psychotherapieforscher Klaus Grawe eine entscheidende Rolle zu. Er veröffentlichte 2004 das gleichnamige Buch, in dem er ein Psychotherapie-Konzept formulierte, das bewusst Psychotherapieschulen-übergreifend angelegt ist und aktuelle Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften mit Erkenntnissen aus der Psychotherapieforschung verbindet.[1] Allerdings war er nicht der Erste, der sich mit diesen Fragen beschäftigte. Im deutschen Sprachraum beschäftigten sich der Psychologe Hubert Rohracher und sein Schüler Niels Birbaumer bereits vor 35 Jahren mit dem Bereich der „neurobiologischen Psychotherapie“.[2][3]
Geschichtliche Entwicklung und Hintergründe[Bearbeiten]
Grawe selbst bezieht sich allerdings nicht auf Rohracher und Birbaumer, sondern gibt in seinem Buch an, er habe den Begriff Neuropsychotherapie als Titel für sein Buch gewählt, da er neu und unbelastet sei und sein Anliegen am besten ausdrücke.
Neurobiologischer Hintergrund psychischer Aspekte[Bearbeiten]
Das Gehirn wächst und verändert sich lebenslang/Neuronale Plastizität. Dabei organisiert es sich selbst, und das „schneller, als der Mensch denken könnte“ (Gefühl/Limbisches System arbeitet schneller als der Verstand/Neocortex). Es ist ein selbstorganisierendes System, siehe auch Synergetik: Die spontane Bildung von synergetischen Strukturen wird als Selbstorganisation bezeichnet.[4]
Damit es das tun kann, braucht das Gehirn Zugriff auf alle Daten: das, was bisher dort abgespeichert ist, und das, was aktuell über die Sinnesorgane eingeht. Der optimale innere Zustand mit dem besten Zugriff auf alle Daten ist der Zustand des Flow, der Mensch ist innerlich „im Fluss“. In diesem Flow-Zustand sind ebenso Herzschlag und Atmung optimal miteinander abgestimmt (es besteht Herzkohärenz), und Verstand und Gefühl haben dasselbe Ziel (liegen nicht im Widerstreit).
Dieser positive Zustand wirkt direkt auf das „Gefühlszentrum“/Limbische System und veranlasst die Ausschüttung „belohnender Körperchemie“. Es wird beispielsweise Oxytocin (ein Neurotransmitter) ausgeschüttet, was beruhigend, ausgleichend und Vertrauen herstellend wirkt.
Die ebenfalls verbesserte Ausschüttung von Dopamin erleichtert Formung und Wachstum neuronaler Netzwerke und Neubildung von Synapsen in für den Menschen günstiger, gesunder Weise. Wird der Zustand des inneren Wohlfühlens oft und regelmäßig hergestellt, gestaltet sich das Gehirn „neu“, in Richtung bevorzugter Aktivierung der „Wohlfühl-Körperchemie“: Ausschüttung von Wohlfühl- und Glücksbotenstoffen statt Stresshormonen. Die verstärkte und andauernde Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin kann hingegen zur unerwünschten Hemmung bestimmter neuronaler Netzwerke und langfristig gar zu einer Verkleinerung des Hippocampus führen.
Während der Situationen des Flowzustandes und Wohlgefühls verändern sich die bestehenden Synapsen und der Prozess des Veränderns hat zusätzlich eine Nachwirkzeit von einigen Stunden. Es ist demnach vorteilhaft, konsequent und regelmäßig einen Zustand dieses Wohlgefühls herzustellen, durch gute soziale Kontakte, erfüllende Tätigkeiten, psychotherapeutische Gespräche, Arbeit mit dem Inneren Kind, Herzkohärenz-Training oder anderen geeigneten Herangehensweisen. Verändert wird im Kurzzeitgedächtnis die Funktion (bestehende Synapsen werden verstärkt), im Langzeitgedächtnis die Struktur (neue Synapsen werden gebildet). Da etwa drei Monate nötig sind, um das Wachstum zusätzlicher, neuer Synapsen zu ermöglichen, wäre zu vermuten, dass nach drei Monaten konsequenten Achtens auf inneres Wohlgefühl eine einschneidende Veränderung stattfinden könnte.
Parallel zur beschriebenen neuronalen Umstrukturierung kann in einer Psychotherapie eine kognitive Umstrukturierung eingeleitet werden, wie die Überarbeitung ungesunder Lebenskonzepte. Das kognitive Umlernen bewirkt dann wiederum selbst günstige neuronale Umstrukturierung.
Siehe auch Neurobiologie der Bindung, Neuropsychologie, Neurobiologie der Emotionen
Schlussfolgerungen für die Psychotherapie[Bearbeiten]
Möglichkeiten der neuronalen Konsistenzverbesserung durch Psychotherapie[Bearbeiten]
Nach Grawe resultieren psychische Störungen aus misslungener Konsistenzregulation, und Therapie wirkt über Konsistenzverbesserung. Hohe Konsistenz, gleichbedeutend mit guter Bedürfnisbefriedigung, schützt vor der Entwicklung psychischer Störungen. Diese entstehen insbesondere dann, wenn das Inkonsistenzniveau über längere Zeit anhält. Stark ausgeprägte Vermeidungsziele führen zu motivationaler Diskordanz, weil sich Vermeidungs- und Annäherungsziele gegenseitig behindern.
Für die Therapie ist relevant, dass es erst durch konkrete positive Lebenserfahrungen zu sich selbst aufrechterhaltenden, neuen und gesünderen Strukturen und Abläufen im Gehirn kommt. Die Bearbeitung eines Problems sollte daher im Dienste eines wichtigen Annäherungsziels des Patienten stehen (= starke motivationale Aktivität), da nur dann das Dopaminsystem aktiviert und optimales Lernen im Sinne eines Annäherungsschemas möglich ist. Menschen lernen daher Dinge leichter, die sie auch lernen wollen. Dabei steht das bewusste Ziel allerdings in der neurologischen Hierarchie nicht oben, sondern wird von höher angesiedelten, unbewussten (impliziten) Zielen dominiert. Wenn Menschen also eine bewusste (explizite) Entscheidung fällen, ist diese bereits implizit gefallen. Psychotherapie muss sich also darauf konzentrieren, den expliziten Funktionsmodus des Gehirns zu nutzen, um implizite Veränderungen herbeizuführen. Das heißt übersetzt, dass der Therapeut einem Patienten so oft wie möglich Wahrnehmungen ermöglichen sollte, die eine wichtige Bedeutung für seine motivationalen Ziele haben.
Neuronale Mechanismen therapeutischer Veränderungen[Bearbeiten]
Ressourcenaktivierung hat die wichtige Funktion des Annäherungsprimings. Werden dem Patienten bedürfnisbefriedigende Erfahrungen vermittelt, primet man automatisch das Annäherungssystem. Die Realisierung der motivationalen Ziele eines Menschen steht in engem Zusammenhang mit seinem Wohlbefinden. Dies wiederum hängt davon ab, inwieweit seine Grundbedürfnisse befriedigt sind. Bei psychischen Störungen ist das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle sehr stark aktiviert. Der Erfolg einer Therapie ist daher sehr auch davon abhängig, wie gut es dem Therapeuten gelingt, dem Patienten hier positive Erfahrungen zu vermitteln. Dabei ist es wichtig, dass der Patient den Therapeuten als positive Bindungsperson erlebt. Wirksames therapeutisches Lernen erfordert zum einen die Aktivierung wichtiger positiver Ziele und zum anderen die anhaltende und wiederholte Aktivierung der zu fördernden neuronalen Erregungsmuster im Zustand erhöhter Lernbereitschaft.
- Anwendung:
Neuropsychologie bestimmter Krankheitsbilder[Bearbeiten]
Siehe auch: Neurobiologische Schizophreniekonzepte, Dopaminhypothese der Schizophrenie, Angststörung#Biologische Modelle, Panikstörung, Depression#Biologische Faktoren, Depersonalisation#Erklärungsmodelle und Borderline-Persönlichkeitsstörung#Neurobiologie
Klaus Grawe führt eine Vielzahl von Untersuchungsergebnissen von neuronalen Korrelaten zu bestimmten psychischen Krankheitsbildern an. Dabei sei man für die Entstehung von Depression und PTSD schon zu klaren Schlussfolgerungen gekommen, bei der generalisierten Angststörung, der Panik- und Zwangsstörung lägen immerhin berichtenswerte Ergebnisse vor. Zu Phobien und Essstörungen seien die Befunde jedoch noch dürftig bzw. widersprüchlich.
Die Befunde gäben Auskunft darüber, welche Hirnstrukturen nach bisherigem Erkenntnisstand an der Entstehung psychischer Krankheiten beteiligt bzw. bei Vorliegen einer Erkrankung verändert seien. Damit ließen sich einerseits diese Störungen besser diagnostizieren, andererseits durch bildgebende Verfahren z. B. Untergruppen der Störungen differenzieren, die sich sowohl durch die beeinflussten Hirnstrukturen als auch durch ihre Ansprechbarkeit auf bestimmte Therapieverfahren unterscheiden würden. Langfristig bestehe die Hoffnung, dass sich dadurch wesentlich spezifischere Therapiemethoden als auch Erfolgskontrollen einführen ließen. Im Falle der Depression konnte man bisher feststellen, dass der Präfrontale Cortex (PFC), der Anteriore Cingularcortex (ACC), der Hippocampus und die Amygdala sich von Nicht-Depressiven unterscheiden. Eine der wichtigsten Funktionen des PFC ist die Repräsentation von Zielen und der Mittel zu deren Verwirklichung. Dabei „beherbergt“ die linke Hälfte positive Ziele und erzeugt positive Erwartungen, während die rechte Hälfte für negative Emotionen und Vermeidungsziele zuständig ist. Dies ist schon ab dem zehnten Lebensmonat feststellbar. Bei Erwachsenen gehört dementsprechend eine gewisse Asymmetrie zu den stabilen Persönlichkeitsmerkmalen. Bei Depressiven ist nun festgestellt worden, dass die linke PFC sowohl absolut als auch relativ zum rechten PFC unteraktiviert ist, wodurch ihr Mangel an positiven Gefühlen und Zielen sowie ihre Unfähigkeit, negative Emotionen, Grübeleien und Verhaltensweisen durch positiv zielorientierte Aktivität zu verdrängen, erklärbar ist.
Literatur[Bearbeiten]
- Andrea Fahlböck: (Neuro-)Psychotherapie und therapeutisches Milieu. In: Johann Lehrner, Gisela Pusswald, Elisabeth Fertl (Hrsg.): Klinische Neuropsychologie. Springer, Heidelberg 2006, ISBN 978-3-211-21336-0, S. 601–610.
- Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen 2004, ISBN 3801718042 (Rezension AGSP).
- H. G. Petzold: Auf dem Wege zu einer „Allgemeinen Psychotherapie“ und zur „Neuropsychotherapie“. Nachruf Klaus Grawe. In: Integrative Therapie 4, 2005, S. 419–431.
- Günter Schiepek: Neurobiologie der Psychotherapie. Studienausgabe d. 1. Aufl. Schattauer, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-7945-2363-4.
- Johann Caspar Rüegg: Gehirn, Psyche und Körper. Neurobiologie von Psychosomatik und Psychotherapie. 4. erweiterte und aktualisierte Auflage. Schattauer, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-7945-2363-4.
- Iver Hand, Hans-Ulrich Wittchen, Dirk Hellhammer: Verhaltenstherapie 2006. Sonderheft. Neuropsychotherapie Band 16, Nummer 2. Karger, Freiburg im Breisgau 2006, ISBN 3-8055-8112-2.
Einzelnachweise[Bearbeiten]
- ↑ Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen 2004, ISBN 3801718042.
- ↑ Hubert Rohracher: Die Arbeitsweise des Gehirns und die psychischen Vorgänge. Barth, München 1953
- ↑ Klaus Grawe: Rezensionen – Neuropsychotherapie, 2005
- ↑ www.schattauer, AbstractsIII, 2007 Neurobiologie der Psychotherapie
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